Henstedt-Ulzburg. Freude und Unsicherheit nach Stopp der Abrisspläne: So gehen die Altmieter im Henstedt-Ulzburger Beckersbergring mit der Situation um.
Ob er den großen Sticker mitnehmen wird in seine neue Heimat? Walter Heitmann lächelt. „Hände weg vom Beckersbergring“, dieser einprägsame Slogan klebte über Jahre an vielen Fenstern von Reihenhäusern in dem Quartier. Der 71-Jährige, seine Frau Monika (68) und Dutzende weitere Menschen aus der Siedlung in der Ortsmitte von Henstedt-Ulzburg haben unerlässlich dafür gekämpft – leidenschaftlich, erbittert, manchmal ohnmächtig –, damit verhindert wird, was die Soka-Bau als Eigentümer von 116 Mietobjekten und was viele Politiker und auch Bürgermeister Stefan Bauer wollten: einen kompletten Abriss und einen Neubau mit mehr als 200 Wohnungen.
Die Heitmanns wohnen bald an der Nordseeküste
Dass daraus nichts wird, die Soka-Bau (Versorgungskasse der Bauwirtschaft) vielmehr alle Häuser einzeln verkaufen will, steht seit dem 20. März fest (das Abendblatt berichtete). Für die Heitmanns kommt das zu spät. Sie haben sich entschieden, noch einmal neu zu starten. Und das nach 42,5 Jahren. Seit 2017 habe man ernsthaft nachgedacht wegzuziehen, sagt Walter Heitmann. „Wir haben intensiv gesucht, es muss schließlich bezahlbar sein.“ In der näheren Umgebung fanden sie nichts. Reihenhäuser wie am Beckersbergring aus den 1960er-Jahren sind so gut wie nicht auf dem Markt. Und erst recht nicht für Mieten unterhalb von 1000 Euro, wie es in dem alten Quartier der Fall ist.
„Die, die können, gehen weg – oder sind schon weg“, so Heitmann. Er wurde tatsächlich fündig. Wenn auch an der Westküste in Dithmarschen. „20 Minuten von Sankt Peter-Ording entfernt“, in dem Dorf Tensbüttel-Röst mit ungefähr 700 Einwohnern. Bald sind es zwei mehr. Monika und Walter Heitmann beziehen im Juni eine Doppelhaushälfte, auf die sie via Ebay-Kleinanzeigen gestoßen waren. Irgendwie ist es bezeichnend: Heitmann, der vor vier Jahren einen Mieterstammtisch für den Beckersbergring ins Leben rief, der zum Mieterbeirat gehörte, der ein Gesicht der Bürgerinitiative war, verlässt die Nachbarschaft.
Was das Ehepaar zurücklässt, ist ein Reihenhaus mit 78 Quadratmeter Wohnfläche (und 400 Quadratmeter Garten), für dessen guten Zustand es selbst gesorgt hat. „Die Soka-Bau hat nie etwas gemacht.“ Sie hatten das Gefühl, sie seien bereits Eigentümer. Unter anderem baute Walter Heitmann 15 Jahre an einer Holzsauna im Keller, über die sich bald jemand anders freuen wird.
Über den tatsächlichen Wert der Immobilien wird nun gestritten. Familie Heitmann erhielt vor einigen Jahren einmal ein Angebot von der Soka-Bau über 125.000 Euro. Weil das Unternehmen auf eine Antwort jedoch nicht reagierte, gehen die beiden Pensionäre im Rückblick von einem Test aus. Walter Heitmann nennt Soka-Bau einen „Moloch“, sein Misstrauen ist groß. „Wie stellen die sich vor, die Altmieter zu schützen? Wir sind raus. Aber was passiert jetzt?“
Irene Halkjaer will bleiben und weiterkämpfen
Die Situation für die Verbliebenen ist sehr kompliziert. Ein typisches Beispiel ist Irene Halkjaer (79). Sie zog vor 50 Jahren an den Beckersbergring mit ihrem mittlerweile verstorbenen Ehemann Verner. „Damals kamen wir aus Kopenhagen nach Henstedt-Ulzburg. Mein Mann hat für die Fluglinie SAS gearbeitet. Wir dachten, der neue Flughafen in Kaltenkirchen kommt.“ Der kam nie, aber die Halkjaers blieben. „Als wir hergezogen sind, war es ein totales Dorf.“ Alte Unterlagen geben einen Einblick darin, wie die Siedlung 1960 beworben wurde. „Hamburg hat kein Bauland für Eigenheime mehr. Sollen Sie deshalb auf ein Eigenheim verzichten? Nein!“, schrieb seinerzeit die Betreuungs- und Wohnungsbaugesellschaft. Die Preise waren, verglichen mit 2019, ein Witz. Die Reihenhäuser kosteten zwischen 49.000 und 53.000 D-Mark, 40 Prozent mussten als Eigenkapital aufgebracht werden.
Halkjaers Schwiegersohn Christian Engel ist Sprecher der Bürgerinitiative für den Quartierserhalt. „Wir haben dem Investor in die Suppe gespuckt“, sagt er. Doch ob jetzt alles besser wird? Engel hat mit der Soka-Wohnungsverwaltung gesprochen, die Familie überlegt, das Reihenhaus zu kaufen. Aber nicht für die aufgerufene Summe von 230.000 Euro. „Das ist das 30-fache der Jahresmiete. Das ist zu viel.“ Irene Halkjaer will auf keinen Fall wegziehen. „Ich bleibe hier, ich kämpfe.“ Auch sie und ihr Mann haben nötige Arbeiten und Renovierungen oft selbst bezahlt. „Wahrscheinlich haben wir hier 60.000 Euro reingesteckt.“
Bis Ende Mai werden die Altmieter schriftliche Angebote erhalten. Wer nicht kaufen kann oder will, muss befürchten, dass andere Interessenten auftauchen – und mittelfristig die Mieten steigen. Wer am Beckersbergring investieren könnte, darüber gibt es viele Gerüchte in der Gemeinde. So soll es sogar Politiker geben, die in den Häusern mögliche Kapitalanlagen sehen. Grundsätzlich muss der Wert einer jeden Immobilie individuell betrachtet werden, sagt Karsten Placke, Inhaber einer Immobilienfirma in Henstedt-Ulzburg. „Dächer, Heizungen, Fenster, Leitungen, Bäder sind extrem wertrelevant.“ Der Bodenrichtwert, der aus aktenkundigen Verkäufen ermittelt wird, liegt bei 200 bis 300 Euro pro Quadratmeter. Der Beckersbergring ist laut Placke ein Sonderfall mit seinen vielen Mietshäusern. „Henstedt-Ulzburg ist stark eigentumsgeprägt. Die Gemeinde hat kein kommunales Wohnungsunternehmen, es gibt keine Genossenschaft.“
Das soll auch so bleiben, sagt Bürgermeister Stefan Bauer. „Wir sind kein Unternehmen für Wohnungsbau. Weder sind wir so aufgestellt, noch ist es eine Kernaufgabe der Daseinsvorsorge.“
Wohl aber ist Henstedt-Ulzburg die größte Mietpartei. 35 Reihenhäuser werden von der Gemeinde genutzt für die Flüchtlingsunterbringung. 32 sind derzeit bewohnt von 163 Menschen, fast alles sind Familien. 29 der Verträge werden über den 31. Dezember 2019 hinaus für sechs Monate verlängert, maximal zehn sogar bis Ende 2020 – das hängt von dem Baufortschritt der geplanten neuen Unterkünfte im Kirchweg und in der Lindenstraße ab. Im zweiten Fall klagen Anwohner am Oberverwaltungsgericht gegen den Bebauungsplan. Sie bemängeln eine unzureichende Abwägung von sozialen Problemen und Lärmbelästigung. Bauer: „Ich bin trotzdem zuversichtlich, dass wir einen rechtsgültigen B-Plan haben.“
Soka baut in Wiesbaden 186 neue Wohnungen
Während also in Henstedt-Ulzburg ein zentrales Vorhaben für Wohnungsbau gescheitert ist, ist die Partnerschaft der Soka-Bau mit Wiesbaden erfolgreicher. Dort erfolgte am 21. März der Spatenstich für 186 Wohnungen, Gewerbe und Tiefgaragen. Das Investitionsvolumen: rund 80 Millionen Euro. Soka-Vorstand Gregor Asshoff sprach von einem „Beispiel gelungener Planung, die Wohnen und Büro in einem harmonischen Einklang bringt. Wiesbaden erhält damit dringend benötigten Mietwohnraum.“
Grüne plädieren für Erhaltungssatzung
Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünenwird am 6. Mai im Planungsausschuss eine Erhaltungssatzung für den Beckersbergring beantragen. „Diese kleine Gartenstadt soll in ihren Grundstrukturen nicht verändert werden“, sagt der Fraktionschef Kurt Göttsch. „Wir wollen die Siedlung und deren Mieter vor Spekulationen und Unsicherheiten über die Zukunft der Anlage schützen.“
Insbesondere für junge Familien seien die Häuser geeignet. Auch die WHU fordert eine solche Satzung. Zudem haben die Grünen an Soka-Bau geschrieben. „Wir haben den Vorstand aufgefordert, uns mitzuteilen, dass sie zum Schutz der Altmieter in Kaufverträgen die Kündigung wegen Eigenbedarfs ausschließen.“ Das Unternehmen, habe eine hohe moralische Verpflichtung gegenüber Altmietern, die zum Teil 50 Jahre im Beckersbergring wohnen.