Norderstedt . Die Stadt Norderstedt will den 200 Tieren am Herold-Center eine Unterkunft bauen. Sowohl Freunde als auch Feinde der Tiere finden das gut.

Kaum hat die kleine Frau mit dem Einkaufstrolley im Schlepptau die Wiese am Willy-Brandt-Park hinter dem Herold-Center erreicht, beginnt die Luft zu vibrieren. Von den 20-stöckigen Wohntürmen über dem Center herunter stürzen sich im Pulk vielleicht 200 Tauben, flattern in einer wilden Choreografie um die kleine Frau herum, die beginnt, aus einer Stofftasche mit vollen Händen eine Mischung aus Weizen, Mais und Sämereien auf der Wiese zu verstreuen. Die Tiere lassen sich augenblicklich auf der Wiese nieder und futtern. Es dauert keine zehn Minuten, ehe jedes Körnchen verschwunden ist und die Tauben wieder auf den Wohntürmen sitzen.

„Kein Volk hasst die Tauben so sehr wie die Deutschen“

„Ich betreibe Tierschutz“, sagt die Taubenfreundin. „Ich füttere täglich bis zu drei Mal.“ Und das seit Jahren, jeden Tag. In Spanien habe sie gelebt, in Frankreich, in den USA – immer habe sie Tauben gefüttert, aber nie sei ihr dabei dieser aggressive Taubenhass entgegengeschlagen wie in Deutschland. Sie werde bespuckt, mit Steinen beworfen, Hunde werden auf sie und die Tauben gejagt. „Ich verstehe die Deutschen nicht. Warum dieser Hass, warum wollen sie Tauben vernichten?“

Susanne Grentsch von Gandolf´s Taubenfreunden aus (l.) und Britta von Eschwege von der Stadtverwaltung Norderstedt.
Susanne Grentsch von Gandolf´s Taubenfreunden aus (l.) und Britta von Eschwege von der Stadtverwaltung Norderstedt. © Andreas Burgmayer | Andreas Burgmayer

Im Sitzungssaal II des Rathauses tagt der Ausschuss für Stadtentwicklung und Verkehr. Die Politik debattiert über Bauprojekte und Radverkehr, und die Abgeordneten glauben, den Tagesordnungspunkt 7 „Betreuter Taubenschlag auf dem Parkhaus des Herold-Centers zwecks Bestandsregulierung“ schnell abhaken und durchwinken zu können. Doch es wird die längste Debatte des Abends. „Ich bin ein Taubenhasser“, leitet Baudezernent Thomas Bosse die Debatte ein. „Aber ich denke, wir haben hier eine Lösung für das Taubenproblem am Herold-Center, die sowohl Taubenhasser als auch Taubenfreunde befriedigt.“ Er gibt das Wort an seine Mitarbeiterin Britta von Eschwege, die er vor immerhin vier Jahren damit betraute, diese Lösung zu suchen. Und von Eschwege liefert an diesem Abend in beeindruckender Qualität.

Der Ausschuss wird zum Proseminar in Taubenkunde. Von Eschwege lässt mit ihrer Faktensammlung keinen Raum mehr für Vorurteile über die „Ratten der Lüfte“, die von den meisten Menschen als eine nervige, kackende und Viren verbreitende Laune der Natur angesehen werden. Vielmehr erinnert von Eschwege daran, dass der Mensch die Taubenmisere angerichtet hat und sich nun nicht darum kümmern will.

Taube mit amputierten Beinen: Haare und Schnüre wickeln sich um die Beine und drücken die Gliedmaßen ab – qualvoll.
Taube mit amputierten Beinen: Haare und Schnüre wickeln sich um die Beine und drücken die Gliedmaßen ab – qualvoll. © Andreas Burgmayer | Andreas Burgmayer

Es ist mittlerweile mucksmäuschenstill im Sitzungsraum. Nur von Eschwege spricht. Berichtet, dass ausnahmslos alle, in deutschen Städten lebenden Tauben Haustiere seien, Abkömmlinge ausgesetzter Zucht- oder Brieftauben, nicht geschaffen für das Leben auf der Straße, immer auf der meist erfolglosen Suche nach Unterkunft und artgerechtem Futter. Im Gegensatz zu ihren natürlichen Verwandten, die in der Natur zurechtkommen und meist pärchenweise im Wald leben, suchen Straßentauben überall aussichtslos nach Körnerfutter. Stattdessen fressen sie Müll, was sie krank und ihren Stuhlgang dünn, flüssig und ätzend mache („Hungerkot“). „Artgerecht gehaltene Tauben werden 15 Jahre alt. Tauben auf der Straße durch Stress und Hunger nur zwei bis drei Jahre.“ Am Herold-Center würden etwa 200 Tauben leben – und es kämen laufend neue nach. „Die Zuchttauben brüten bis zu siebenmal im Jahr ein Ei aus“, sagt von Eschwege. Vergrämung, Abschuss, Fressfeinde wie die Wanderfalken – nichts käme gegen die größer werdende Population an. Und so sitzen die Tauben überall. Sie betteln im Café, sie nisten in der Tiefgarage, auf Balkonen, verkoten alle Orte, an denen sie ein wenig Ruhe finden und arbeiten beharrlich an ihrem schändlichen „Flugratten“-Image.

Und nun? „Ein Taubenschlag. Nach dem Augsburger Modell“, sagt von Eschwege. Die bayerische Stadt machte vor, was bislang 60 Städte nachgemacht haben. Sie stellte ein Häuschen auf, irgendwo in der Höhe. Hier bekommen die Tauben seither Futter, Wasser, Nistplätze. Und wenn die Eier liegen, tauschen Helfer sie gegen Plastikkugeln aus. „Der Bestand ist reguliert. Die Taube lebt 80 Prozent des Tages im Schlag. Und sie kotet dort, wo sie frisst.“

Tauben nisten auf den Leitungen der Tiefgarage unter dem Herold-Center. Die Stacheln stören nicht.
Tauben nisten auf den Leitungen der Tiefgarage unter dem Herold-Center. Die Stacheln stören nicht. © Andreas Burgmayer | Andreas Burgmayer

Es gibt in der Kommunalpolitik selten Momente, in denen man viele Probleme mit nur einer Lösung erledigen kann. Meist ist alles komplizierter als gedacht. Das Taubenproblem ist simpel, die Lösung auch. „Wir sollten jetzt gar nicht lange diskutieren. Einfach machen!“, sagt Peter Holle (CDU), nachdem Britta von Eschwege ausgeredet hatte. Praktisch bedeutet das nun: Die Stadt wird einen Taubenschlag-Container für 32.000 Euro anschaffen, der sich über eine Photovoltaik-Anlage mit Energie versorgt. Die Stadt hat den Herold-Center-Betreiber ECE als Partner, der als Standort eine Ecke auf dem nicht öffentlichen Obergeschoss des Parkhauses bereitstellt. Von Eschwege hat darüber hinaus die ehrenamtlichen Tierschützer der Hamburger Initiative Gandolf’s Tierfreunde für den Betrieb des Schlags gewonnen. Für Futter und anderen Aufwand muss die Stadt im Jahr 9500 Euro aufbringen.

Ausrotten? Ein Herold-Center ohne Tauben gibt es nicht

Tatsächlich, wie Thomas Bosse es sagte: Eine Lösung, die Taubenhasser und -freunde zufriedenstellt. Wobei die Taubenfreunde die -hasser insofern enttäuschen müssen, was den Ansatz angeht, man könne die Taubenpopulation am Herold-Center mit diesem Schlag auf Null regulieren. „Wir pflegen sonst doch nur die Population. Aber unser Ziel sollte es doch sein, die Tauben loszuwerden – auch weil wir ja gerade gelernt haben, dass sie nicht Teil der natürlichen Fauna sind“, sagte Tobias Mährlein (FDP).

„Wir liegen in Norderstedt auf einer Brieftaubenroute, da kommen ständig neue Tauben nach. Und es gibt wohnungslose Tauben in Hamburg – die werden von den Türmen am Herold-Center magisch angezogen“, sagt Britta von Eschwege.

Der Schlag für die Taubenpopulation wird kommen. Das freut auch die kleine Frau, sie sich mit ihrem Trolley zur nächsten Futterstelle aufmacht. „Ich bin alt und kann das ja nicht ewig machen.“ In den Bäumen, auf den Laternen und Schildern, überall wo sie geht und steht, sammeln sich schon wieder die Tauben.