Kiel/Boostedt. Der Prozess um den Mordversuch in der Boostedter Flüchtlingsunterkunft wird fortgesetzt. Das Opfer belastet den Angeklagten als Messerstecher.
Im Prozess um einen Mordversuch in der Flüchtlingsunterkunft Boostedt hat der am 3. Oktober lebensgefährlich verletzte Somalier (33) den Angeklagten als Messerstecher belastet. Sein Landsmann (21) habe bei einem verbalen Streit plötzlich ein Küchenmesser mit schwarzem Griff aus der Tasche gezogen und sofort auf ihn eingestochen, erklärte der Zeuge gestern im Kieler Landgericht.
„Mit einem Angriff habe ich nicht gerechnet“, sagte der Somalier. Er habe mit dem Angeklagten nach einem gemeinsamen Essen noch eine Zigarette im Freien geraucht und geredet. „Vor dem Gebäude Nr. 4 standen wir uns direkt gegenüber.“ Damit unterstrich der Zeuge den Vorwurf der Staatsanwaltschaft, der Täter habe heimtückisch zugestochen, als sein Gegner arg- und wehrlos war. Zuvor hatte der Vorsitzende der Jugendstrafkammer den Zeugen eindringlich über seine Wahrheitspflicht belehrt. „Er war wahrscheinlich sauer auf mich“, erklärte der 33-Jährige die Attacke des jüngeren Mitbewohners, den er erst 20 Tage zuvor kennengelernt habe.
Womit er dessen Wut geschürt haben könnte, wisse er jedoch nicht. „Wir haben angefangen, uns verbal zu amüsieren“, beschrieb er den Ausgangspunkt des Streits. Erst auf beharrliches Nachfragen rückt der Zeuge damit heraus, dass man im Gespräch über die gemeinsamen Wurzeln nicht nur allgemein Witze über das in Somalia herrschende Stammessystem gerissen habe.
An Konkretes konnte oder wollte sich der Zeuge nicht erinnern. Schließlich räumte er ein, der Jüngere habe ihn mit Worten geärgert. „Er sagte, ich sei deshalb so dick, weil ich in Somalia anderen so viel weggefressen habe.“ Der Angeklagte selbst hatte zum Prozessauftakt erklärt, vom späteren Opfer seit Tagen immer wieder wegen seiner angeblich minderwertigen Clan-Herkunft und Familie beleidigt und gekränkt worden zu sein. Diesen Vorwurf wies der Zeuge zurück und verneinte jeglichen Beitrag an der Eskalation. „Es ist alles Schicksal“, verkündete der bekennende Gläubige, „von Gott vorbestimmt.“ Der Zeuge widersprach auch dem Vorwurf des Angeklagten, die gewaltsame Auseinandersetzung selbst mit einem Schlag seines Handys gegen sein Gesicht eröffnet zu haben. „Nein, ich war nicht aktiv“, beteuerte der 33-Jährige. „Nicht ein einziges Mal.“ Erst als er nach den ersten Stichen geflüchtet und an einem Treppenabsatz gestürzt sei, habe er sich gegen den Verfolger gewehrt. „Er hat mich eingeholt und zugestochen, als ich am Boden lag“, so der Zeuge weiter. Erst jetzt habe er dem Angreifer sein Handy gegen den Kopf geschlagen. Noch als er sich wieder aufrappelte, habe der Jüngere ihn weiter verfolgt – trotz der Rufe eines Augenzeugen, damit aufzuhören. Erst wenige Schritte vor der rettenden Polizeistation in der Landesunterkunft habe der Bewaffnete kehrtgemacht.
Zur Schwere der Verletzungen gab ein Gerichtsmediziner gestern sein Gutachten ab. Demnach war die Eröffnung des Magens in doppelter Hinsicht potenziell lebensgefährlich: Ohne medizinische Versorgung hätte das Opfer verbluten können. Und ausgetretener Mageninhalt im Bauchraum hätte möglicherweise eine tödliche Sepsis verursacht. Heute fühlt sich das Opfer, das die Klinik in Neumünster nach einer Not-OP in Vollnarkose und sechstägiger Bettruhe gegen ärztlichen Rat vorzeitig verließ, wieder voll hergestellt. Nur ein Druckschmerz an der Bauchnarbe sei noch zu spüren.
Inzwischen lebt der 33-Jährige in Quickborn. Dort habe er sich „mit Gottes Hilfe“ auch seelisch gut erholt. Den Tatort meide er jedoch, weil er ihn an den Vorfall erinnere. Der Prozess wird am Freitag fortgesetzt.