Norderstedt. . In Norderstedt ist der Impfstoff für die Saison Mangelware. Mediziner sprechen von einem Skandal und Versagen der Politik.

Dr. Svante Gehring und Dr. Bernd Mansfeld suchen gemeinsam und erfolglos in den Kühlschränken und Regalen ihrer Gemeinschaftspraxis am Herold-Center nach einer Einzeldosis des derzeit wohl begehrtesten Stoffes in der Stadt: Influvac Tetra vom Pharma-Hersteller Mylan. Der Grippe-Impfstoff für die Saison 2018/2019. „Ach – ich weiß, wo noch einer ist!“, ruft plötzlich die Arzthelferin am Patienten-Tresen und verschwindet kurz. Tatsächlich fördert sie ein Päckchen mit einer Einzeldosis des Impfstoffes zutage. „Jetzt haben wir wenigstens eine Packung für das Foto im Abendblatt“, sagt Gehring.

Zwar lacht der Allgemeinarzt jetzt über die Suchaktion. Eigentlich aber ist er stocksauer und geladen. In ganz Norderstedt und im ganzen Land Schleswig-Holstein ist kein Grippe-Impfstoff zu bekommen. Alles ausverkauft, alles weggeimpft. „Wir müssen hier Patienten wegschicken. Sie fragen mich, wann denn der günstigste Zeitpunkt ist für eine Grippeimpfung. Und ich muss ihnen sagen: Wenn es Grippe-Impfstoff gibt.“ Ein paar Einzeldosen haben die beiden Ärzte noch gebunkert. „Für das Personal und uns selbst – wir müssen geimpft sein“, sagt Gehring. Viele Patienten aber gehen ungeimpft nach Hause.

Für Gehring ein unfassbarer Skandal. „Die Grippe-Impfung rettet jedes Jahr nachweislich die meisten Menschenleben in Deutschland. Mit der künstlichen Verknappung des Impfstoffes haben die Verantwortlichen in Kauf genommen, dass in diesem Jahr mehr Menschen an der Grippe sterben werden“, sagt Gehring. Laut einer Prognose der AOK und des Max-Planck-Institutes stirbt in der Risikogruppe der über 60-Jährigen trotz Impfung einer von 100 infizierten Senioren an der Grippe. Fehlt die Impfung, sterben zwei von 100. Die vergangene Grippe-Saison 2017/2018 war heftig in Deutschland: 334.000 nachweislich Infizierte und 1665 Todesopfer, 87 Prozent davon über 60 Jahre.

Im Land wurden nur 290.000 Einzeldosen ausgeliefert

„Und deswegen war dieses Jahr abzusehen, dass es einen Run auf die Impfung geben könnte. Noch dazu übernehmen die Kassen in diesem Jahr zum ersten Mal die Kosten des wirksameren Vierfach-Impfstoffes“, sagt Gehring. Dass es nun trotzdem zu wenig Impfstoff gibt, sei ein Systemfehler. Die Krankenkassen würden die Preise für Grippeimpfstoffe so niedrig ansetzen, dass der Auftrag für einen Hersteller nur interessant ist, wenn er ihn exklusiv bekommt.

„Es entsteht also kein Wettbewerb. Einer bekommt den Zuschlag, alle anderen Hersteller produzieren weniger oder gar nicht“, sagt Gehring. Für Schleswig-Holstein hat Mylan aus Hannover den Zuschlag bekommen und 290.000 Einzeldosen hergestellt und ausgeliefert – viel zu wenig, wie sich jetzt zeigt.

„Im März hatte uns die Kassenärztliche Vereinigung aufgefordert, den Impfstoff zu bestellen – aber nur 60 Prozent unseres Saisonbedarfs. Die restlichen 40 Prozent, so hieß es, können wir nachbestellen, wenn die 60 Prozent verbraucht sind.“ Zu viel Impfstoff zu bestellen, ist für die Ärzte ein Risiko. Was nicht verabreicht wird, müssen sie aus eigener Tasche bezahlen – 11 Euro kostet das pro Dosis.

In diesem Jahr bleibt nichts übrig. Aber aus der versprochenen Nachbestellung wurde nichts. Gehring und Mansfeld mussten mit etwa 740 Einzeldosen zurechtkommen. Denn auch der Hersteller hat keine Lust, auf fertig produzierter Ware im Lager sitzen zu bleiben. „Die wollen Lagerungskosten einsparen und produzieren nur noch Just-in-time“, sagt Gehring.

Umverteilung des Impfstoffs zwischen den Ländern

Am 19. November gab der Apothekerverband Schleswig-Holstein bekannt, dass die von den gesetzlichen Krankenkassen prognostisch errechnete Menge an Grippeimpfdosen von Mylan komplett produziert und ausgeliefert wurde. In derselben Mitteilung konstatiert der Verband, dass Mitbewerber deutlich weniger Impfstoff hergestellt haben und dass mit weiteren Chargen nicht zu rechnen ist – Ausverkauf.

Nachdem Gesundheitsminister Jens Spahn den Zukauf von Impfdosen aus dem Ausland möglich gemacht und auch mit einer Umverteilung des Impfstoffes zwischen den Bundesländern gerechnet wird, keimt die Hoffnung, dass doch noch Impfstoff seinen Weg nach Norderstedt finden könnte. „Doch bei uns ist bislang noch nichts angekommen“, sagt Gehring.

Er verurteilt das System, weil es faktisch über Leben und Tod von Patienten entscheidet. „Der Skandal ist, dass die Politik hier völlig versagt. Sie müsste dafür sorgen, dass mehr Wettbewerb entsteht und sich mindestens drei oder vier Hersteller an der Produktion des Impfstoffes beteiligen.“

Die gute Nachricht: Die meisten Hochrisiko-Patienten sind längst gegen die Grippe geimpft. „In den Altersheimen war ich als erstes unterwegs. Mit unseren Vorräten werden die alten Menschen und viele chronisch Kranke mit schlechtem Immunsystem als erstes versorgt“, sagt Dr. Bernd Mansfeld. Doch auch er hatte jetzt Senioren in der Praxis abweisen müssen. „Die machen sich natürlich große Sorgen, wie sie jetzt ohne Impfung über den Winter kommen sollen.“ Svante Gehring sorgt sich vor allem um die chronisch Langzeitkranken, die sich bislang die Impfung noch nicht abgeholt haben. „Viele haben sich in unserer Praxis noch nicht gemeldet. Und wenn sie kämen, könnten wir sie nicht impfen.“