Norderstedt. Über die Widmung der Straßen in Norderstedt Ursprungsgemeinden während der NS-Diktatur ist wenig bekannt. Eine Frau will das ändern.
Straßen führen nicht nur von A nach B, sondern manchmal auch tief in die Geschichte einer Region und ihrer Gesellschaft. „Die Namensgebung der Straßen spiegelt die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen über die Jahrzehnte und Jahrhunderte wieder“, sagt Marlen von Xylander. Für die Historikerin vom Stadtmuseum Norderstedt ist es deswegen höchst unbefriedigend, dass die Aktenlage über die Verkehrswege in Norderstedt äußerst lückenhaft ist.
Es gibt 477 Straßen in Norderstedt, sie erstrecken sich über 345 Kilometer und decken eine Fläche von 1,7 Millionen Quadratmetern ab. Durch den Einsatz eines Video-Wagens kennt die Stadtverwaltung heute jedes Schlagloch im Straßennetz – doch warum welche Straße ihren Namen trägt und – viel schwieriger – welchen Namen sie einst trugen, darüber ist in vielen Fällen so gut wie nichts bekannt.
Marlen von Xylander will das so nicht länger akzeptieren. „Das Stadtjubiläum steht 2020 an. Eine historische Veröffentlichung zu den Straßen der Stadt wäre da angebracht.“ Gemeinsam mit Klaus Dreger, der im Rathaus seit vielen Jahren für den Bereich Vermessung zuständig ist und das Straßennetz der Stadt in- und auswendig kennt, sowie der ehemaligen Leiterin der Norderstedter Büchereien, Susanne Martin, hat von Xylander ein Team gegründet mit dem Ziel, die Geschichte der Norderstedter Straßen aufzuklären.
Gesucht werden Zeitzeugen aus allen vier Gemeinden
„Wir rufen die Bürger der Stadt Norderstedt auf, uns bei der Suche nach Unterlagen zu unterstützen“, sagt die Museumsleiterin. „Wir suchen Zeitzeugen, die uns erzählen können, wie die Norderstedter Straßen früher hießen. Wir haben uns jetzt zu diesem Aufruf entschieden, weil die Generation der Zeitzeugen, die den Nationalsozialismus noch erlebt hat, langsam ausstirbt.“ Denn besonders schwach sei die Recherchegrundlage für die Zeit vor 1945, sagt von Xylander. Doch gerade die Nationalsozialisten sorgten mit etlichen Namensänderungen für ein aus ihrer faschistischen Sicht korrektes Straßenbild. „Aus den vier Norderstedter Ursprungsgemeinden liegen uns dazu nur aus Garstedt Unterlagen vor. Die hatten damals eben schon eine moderne und große Verwaltung.“
Dokumentiert ist, mit welchen Straßen einst Nazi-Größen verherrlicht wurden. Die heutige Niendorfer Straße etwa, die von Garstedt an den Gewerbegebieten Nordport und Nettelkrögen vorbei bis zum Krohnstiegtunnel führt: Vor 1945 hieß sie Adolf-Hitler-Straße. Die heutige Friedrich-Ebert-Straße zwischen Garstedt und Hasloh, benannt nach dem großen Sozialdemokraten und ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik, trug vor 1945 den Namen des grotesken Reichsfeldmarschalls Hermann Göring.
Der Schwarze Weg, der im Rücken des Plambeck-Stadions zur Ohechaussee führt, hieß unter der Herrschaft der Nazis Horst-Wessel-Weg und erinnerte damit an den von Kommunisten getöteten und zum Nazi-Märtyrer stilisierten Sturmführer der Sturmabteilung (SA), der paramilitärischen Kampforganisation der NSDAP.
1970 gab es eine Welle an Straßenumbennungen
Der Schmuggelstieg schließlich, die namensgebende Hauptstraße des Einkaufsquartiers am Ochsenzoll, war vor 1945 dem von den Nazis verehrten Albert Leo Schlageter gewidmet, einem Mitglied der NSDAP-Tarnorganisation Großdeutsche Arbeiterpartei, der als Attentäter vor einem französischen Militärgericht zum Tode verurteilt wurde und so den „Schlageter-Kult“ bei den Nazis begründete.
„In Glashütte, Friedrichsgabe und Harksheide sind Akten verschwunden oder vernichtet worden, bei den Umzügen vielleicht“, sagt von Xylander. Dass es auch hier Nazi-Umwidmungen gab, ist wahrscheinlich. Interessant ist aber auch: Wie hießen die Straßen vor 1933, wie hießen sie im 19. Jahrhundert.
Eine weitere Welle an Straßenumbenennungen gab es in den vier Ursprungsgemeinden 1970 bei der Zusammenlegung zur Stadt Norderstedt. 117 Straßen in den Gemeinden hatten die gleichen oder ähnliche Namen und mussten umbenannt werden. Aus dem Friedrichsgaber Amselgang wurde der Bunsengang. Aus einem Teil der Garstedter Feldstraße wurde die Berliner Allee. Aus dem Wilstedter Moorweg in Harksheide der Steertpoggweg und aus dem Neuen Steindamm in Glashütte der Glashütter Damm.
Ein Straßenname wurde offenbar im Jux vergeben
Wenn heute in Norderstedter neue Straßen benannt werden müssen, suchen Mitarbeiter der Verwaltung Namen aus und schlagen sie der Politik zum Beschluss vor. Bei der Namensfindung werden ökologische Besonderheiten im Baugebiet herangezogen oder Themenbereiche gewählt, etwa Dichter und Denker. Im Garstedter Dreieck, dem gerade entstehenden Wohngebiet, wählte man für die Hauptverkehrsachse den Namen des ersten Bürgermeisters der Stadt Norderstedt, Horst Embacher. Doch es gibt auch neue Straßennamen in der Stadt, auf die sich niemand einen Reim machen kann, geschweige denn, die Hintergründe der Namensfindung kennt. Bei der Beamtenlaufbahn ist das so, jener kleinen Sackgasse vor dem Verwaltungsgebäude der Stadtwerke. „Mit der hat es die Stadt in Quizsendungen geschafft. Wir waren sogar mal Gegenstand eines Erklärstücks in der ,Sendung mit der Maus’“, sagt Stadtsprecher Bernd-Olaf Struppek. Gemutmaßt wird, dass die Namensfindung tatsächlich ein Jux der Kommunalpolitiker war.
Wer etwas zur Geschichte der Straßennamen beitragen kann, meldet sich bei Marlen von Xylander unter 040/30 98 27 50 oder unter marlen.vonxylander@norderstedt.de Die Menschen hinter den Namen:
Gorch-Fock-Weg in Harksheide: Benannt nach dem „Dichter der Nordsee“ Johann Wilhelm Kienau (1880–1916) aus Finkenwerder. Sein Pseudonym wurde als Name auch für zwei Segelschulschiffe der deutschen Marine verwandt.
Sauerbruchring in Friedrichsgabe: Ernst Ferdinand Sauerbruch (1875–1951) galt als bedeutendster Chirurg des 20. Jahrhunderts. Ist durch seine Rolle im NS-Regime aber nicht unumstritten.
Helene-Weber-Straße in Garstedt: Die CDU-Sozialpolitikerin (1881–1962) arbeitete an der Weimarer Verfassung und am Grundgesetz mit, stimmte gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz. Prägte die Sozialpolitik in Deutschland und Europa (Sozialcharta).
Cordt-Buck-Weg in Harksheide: Um 1690 war Cordt Buck der von den Tangstedter Herren eingesetzte Bauernvogt im Lindenhof, der größten Bauernstelle des Dorfes. Er war in der Dorfgemeinschaft als Vertrauensperson hoch geachtet.
Bürgermeister- Klute-Straße in Friedrichsgabe: Helmut Klute (1877–1948) aus Altona wurde im Jahr 1929 Gemeindevorsteher des 900-Seelen-Dorfes. Die Nazis hassten ihn und setzten ihn ab. Nach dem Krieg wurde Klute wieder Bürgermeister und blieb es bis kurz vor seinem Tod.
Hugo-Kirchberg- Straße in Garstedt: Der gebürtige Thüringer Hugo Kirchberg (1908–1999) hatte 1936 im Hause Beiersdorf die Idee für den Tesa-Film. Deswegen firmiert die Zentrale von Tesa an der nach ihm benannten Straße.
Beamtenlaufbahn in Norderstedt-Mitte: Zum Schluss noch der Gag unter den Straßennamen der Stadt. Tatsächlich weiß niemand, wie genau es dazu kam, dass die Sackgasse vor den Stadtwerken so genannt wurde. Die Symbolik von Beamten in der Sackgasse ist aber nett.