Norderstedt. Der Jubilar ist Jude und konnte nur dank eines „Seitensprungs“ seiner Großmutter Gertrud Henriette Wolfers überhaupt so alt werden
Oswald Hess ist in Norderstedt ein bekannter Mann. Vor fast 25 Jahren übernahm er die Buchhandlung am Rathaus – an diesem Sonnabend feiert der Buchhändler seinen 88. Geburtstag. Noch heute arbeitet er in der Buchhandlung, deren Inhaber mittlerweile sein Stiefsohn Manuel Fritze ist. Aus Norderstedts Kulturleben ist Oswald Hess nicht wegzudenken, denn mit seinem Team und vor allem mit Buchhändler Wolfgang Dellke verkauft er nicht nur Bücher, sondern gibt Lesungen, oft für einen guten Zweck wie etwa für das Norderstedter Frauenhaus.
„Es bringt uns sehr viel Freude, zum Norderstedter Kulturleben einen Beitrag leisten zu können“, sagt der 88-Jährige, der bei fast jeder Lesung dabei ist. Seinen Gästen, darunter viel Stamm-Publikum, kredenzt er in den Lesepausen gern ein Glas Wein und unterhält sich dabei gern und kenntnisreich über Literatur.
Die Koffer für die Deportation waren schon gepackt
Was kaum einer weiß: Oswald Hess ist Jude und konnte nur dank eines „Seitensprungs“ seiner Großmutter Gertrud Henriette Wolfers überhaupt so alt werden. Seine Großmutter gab bei der Gestapo an, dass ihre am 23. August 1903 geborene Tochter Sigrid, also Oswald Hess’ Mutter, nicht von ihrem jüdischen Ehemann stamme, sondern von einem gewissen John Petersen. Der sei zwar mittlerweile gestorben, aber „Vollarier“ gewesen.
Die Gestapo forderte Zeugen für diesen Aspekt der Familiengeschichte. Und Großmutter Henriette lieferte. Ausgerechnet eine überzeugte NSDAP-Parteigenossin und große Hitler-Verehrerin bezeugte, dass ihre Freundin Henriette ihr den Seitensprung mit einem „reinen Arier“ gestanden habe, und dass aus dieser Verbindung die Tochter Sigrid stamme.
Viele Schreiben später glaubte die Gestapo endlich der Großmutter die erfundene Geschichte. Doch da hatte die Familie Hess bereits die Deportationsbefehle und sollte sich am nächsten Morgen auf der Moorweide zum Weitertransport zum Hannoverschen Bahnhof einfinden, von dem aus die Züge in die Vernichtungslager fuhren. Die Koffer waren schon gepackt, als der Rechtsanwalt die ersehnte Bestätigung brachte, dass Mutter und Söhne „Halbjuden“ seien. „Meine Großmutter hat uns in letzter Sekunde gerettet“, sagt Oswald Hess dankbar. Den gelben „Judenstern“ konnte er ablegen. Auch die „Judenschule“ durften er und sein Bruder Werner wieder verlassen und zurück aufs Eppendorfer Gymnasium gehen.
Der Vater aber wurde von der Gestapo ständig in die gefürchtete Gestapo-Zentrale Stadthausbrücke befohlen. „Wir wussten nie, ob er wiederkommt“, sagt Oswald Hess. Er habe jede Gefahr verdrängt, denn auch „Halbjuden“ wie er standen jetzt auf den Deportationslisten.
Nach dem Krieg wurde Oswald Hess Buchhändler und übernahm die Buchhandlung an der Hamburgischen Staatsoper. Als die Buchhandlung einem Neubau weichen musste, fand er im Börsenblatt des Buchhandels eine Verkaufsanzeige für die Buchhandlung am Rathaus Norderstedt. Er griff zu. „So kam ich nach Norderstedt – dank meiner Großmutter“, sagt Oswald Hess.