Viele kleine und große Ereignisse sind im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten. Das Abendblatt geht auf Spurensuche.
Die Kreuzigung Christi, die Vertreibung aus dem Paradies, Motive der Marienverehrung – das sind wiederkehrende Beispiele von Kirchenmalereien. In der Segeberger Marienkirche aber hängt ein Bild, das nicht in diesen Rahmen passt: Es zeigt unmissverständlich eine Mordszene, die nichts, aber auch gar nichts mit den Evangelien zu tun hat. Wer das erkennen will, muss ganz genau hinschauen oder – besser noch – ein Fernglas zu Hilfe nehmen. Das Bild hängt gegenüber dem Altar sehr hoch auf der Südseite.
Eine Mordszene in der Kirche mag aus heutiger Sicht ungewöhnlich erscheinen, in früheren Jahrhunderten jedoch hatten diese Malereien eine Berechtigung: Die frühen Wandmalereien in Kirchen und Andachtskapellen waren in erster Linie Verständnishilfen für die Leseunkundigen. Eine Art Comic für Analphabeten. So betrachtet wird auch deutlich, warum das Gemälde in der Kirche von Bad Segeberg als Bilderzählung aufgebaut ist. Der Segeberger Günther Gathemann hat sich in akribischer Kleinarbeit durch die Archive gewühlt und eine erstaunliche Geschichte in mehren Varianten ans Tageslicht geholt.
Die Bildtafel hat einen besonderen historischen Wert
Abgesehen vom eigentlichen Mord, der so oder zumindest so ähnlich tatsächlich mitten im heutigen Bad Segeberg geschehen ist, hat die Bildtafel auch sonst einen besonderen historischen Wert. Gefasst in einen Renaissance-Rahmen, spielt sich das Mordgeschehen vor der detaillierten Ansicht der Siegesburg-Südseite ab. Auf diese Weise ergibt sich eine gutes Bild der Burg auf dem Kalkberg vor ihrer Zerstörung. Auf dieser Burg ist der Mord im Jahre 1315 geschehen. Diese Handlung ist abgebildet: Hartwig Reventlow, der dem Grafen Adolf VI. von Holstein-Schauenburg (später Schaumburg) diente, verkleidet sich als Jäger und bindet vor der Burg sein Pferd an. Dann begibt er sich in die Burg und tötet im Schlafgemach den schlummernden Grafen und dessen Knappen. Ob der Mörder die Tat bereut hat, weiß heute natürlich niemand mehr. Aber vorsichtshalber hat er danach – auch das ist auf dem Bild zu sehen – den Bußgang zum Papst, der damals nicht in Rom, sondern in Avignon residierte, angetreten, nähert sich diesem auf Knien und bittet um Absolution. Erfolgreich übrigens, soweit man dem Bild glauben darf.
Nicht nur das Bild gelangte in die Marienkirche, sondern auch der tote Graf, für den ein Grabmal errichtet wurde. Das ist heute verschwunden, und Günther Gathemann hat in den Archiven keinen Hinweis darauf gefunden, wo es sich befand. Täter und Opfer wurden also gleichermaßen im Kirchenschiff verewigt.
Aber warum hat der Diener seinen Herrn ermordet? Darüber gibt es Mutmaßungen, die so vielfältig und unterschiedlich sind wie die tatsächliche Ausführung des Mordes. Eine Theorie besagt, dass der Graf die Ehefrau oder Tochter Reventlows missbraucht und geschwängert haben soll. Weil Reventlow dem Grafen darauf heftige Drohworte aussprach, soll der Adelige kurzerhand den Bruder seines Dieners enthauptet haben und ihm den abgeschlagenen Kopf in einer Schale übersandt haben, worauf Hartwig Reventlow fürchterliche Rache schwor. Es herrschten also offenbar grausame Sitten in der Zeit des Hochmittelalters.
Das Bild in der Kirche entstand 280 Jahre nach dem Mordfall
Es kann aber auch ganz anders gewesen sein. Ein Mord aus politischer Absicht ist ebenfalls nicht ausgeschlossen. Fest steht: Graf Adolf VI. wurde in seinem Schlafgemach erstochen, sein Knappe im Nebenzimmer. Der ganze Vorfall beschäftigte die Menschen in der Umgebung viele Jahrhunderte. Das Bild in der Marienkirche entstand erst 280 Jahre nach dem Mordfall. Heinrich Rantzau, Befehlshaber der Segeberger Burg, gab 1595 einem unbekannten Künstler den Auftrag, es zu malen, um die Erzählungen des grausamen Geschehens festzuhalten und sozusagen niederzuschreiben. Rantzau ließ in der Marienkirche das Grabmal des Grafen Adolf VI. restaurieren und gab den Auftrag, eine Tafel mit goldener Schrift in lateinischer Sprache anzufertigen, auf der das Geschehene kurz skizziert wurde. Es fehlt auch nicht der Hinweis, dass Rantzau diese Tafel zu seinem 70. Geburtstag anfertigen ließ.
Die Schrifttafel und das Bild haben im Laufe der Jahrhunderte häufiger ihren Platz in der berühmten Segeberger Marienkirche gewechselt. Warum das Grabmal des ermordeten Grafen verschwunden ist, weiß heute niemand mehr.