Kreis Segeberg. Diakonie-Mitarbeiter Mike Shorina hilft Flüchtlingen beim Familiennachzug – und bewahrt sie davor, völlig zu verzweifeln.
Der Raum, in dem die Menschen mit ihren Schicksalen landen, ist ein ehemaliges Schulbüro an der Straße Fadens Tannen in Norderstedt. Vollgestellt mit drei Schreibtischen, Schränken, Computern und einem Drucker, der unablässig Dokumente, Briefe, Kopien und Infotexte ausspuckt. Es riecht nach Büro mit Kaffee. In einem Schränkchen steht der Heilige Koran neben dem Sozialgesetzbuch und Kinderbüchern, die auf Arabisch die Mülltrennung in Deutschland erklären. Heute ist Sprechstunde in der Migrations- und Sozialberatung des Diakonischen Werkes Hamburg-West/Südholstein. Für die Flüchtlinge in der Unterkunft der Stadt Norderstedt heißt das schlicht, Mike ist da – der Helfer, der Retter, das Fünkchen Hoffnung, das Licht am Ende des Tunnels. Wenn er mir nicht hilft – wer dann?
Mike Shorina (38) ist ein zweifacher Familienvater mit gütigem Gesicht und gemütlichem Bauch. Einer, zu dem man schnell Vertrauen fast. Der Sozialpädagoge arbeitet seit 2015 in der Flüchtlingsberatung, davor kümmerte er sich um Jugendliche, unter anderem in der JVA Hahnöfersand und im Jugendcafé Bahrenfeld. „Bis ich das Gefühl hatte, mich vom Alter her zu weit von den Jugendlichen und ihrer Kultur entfernt zu haben.“ Ethische und christliche Werte sind für Shorina keine dahingesagten Absichtserklärungen, sondern die Betriebsanleitung für sein Leben.
Wenn man fragt, worum es ihm geht, ist es nicht unangebracht, dass die Antwort pathetisch ausfällt. „Ein Leitspruch der Diakonie lautet: Gott traut uns zu, solidarisch zu handeln, das Recht der Schwachen und Fremden zu achten und jedem Gerechtigkeit zukommen zu lassen.“ Migrationsberatung ist also genau sein Ding.
Draußen vor dem Büro sitzen Männer auf den Wartestühlen. Es wird Arabisch gesprochen, Farsi, Tigrinya, Englisch, brockenweise Deutsch und Gebärdensprache – und es wird laufend aufgestanden, nach draußen gegangen und geraucht. Die Nervosität ist greifbar, die Verzweiflung auch.
Zwei Damen entschlüsseln Sprachgewirr
Wenn Shorina nicht Hero Hewa Taher und Iman Mykha an seiner Seite hätte, wäre die Lage unbeherrschbar. Taher ist Irakerin, Mykha Syrerin, beide sind Flüchtlinge gewesen, beide sind Norderstedter geworden, und nun helfen sie jenen neuen Geflüchteten, in einer fremden Welt Fuß zu fassen. Die Damen übersetzen, wenn Mike Shorina in ruhigem Deutsch seine Strategie erläutert und dabei nicht ohne sperrige amtsdeutsche Vokabeln auskommt.
Shorina bittet einen Iraker zu sich an den Tisch. Der Mann lebt mit seinem Sohn in Norderstedt, die Mutter mit vier weiteren Kindern noch in Erbil. Der Vater hält abgegriffene Dokumente in einer Mappe bereit. Schreiben, die er alle nicht versteht und nicht lesen kann, die aber besagen, dass weder seine Frau, noch seine vier Kindern zu ihm kommen dürfen. Die Ausländerbehörde in Bad Segeberg hat das ausgeschlossen. Denn der Mann hat keine Papiere, eine ungeklärte Herkunft. Nur ein laufendes Asylverfahren. Shorina wird wütend. „Sorry, aber das ist Bullshit! Die machen ihre eigenen Gesetze in Segeberg.“ Die Rechtsprechung besage längst, dass ein Asylverfahren ausreichend für den Identitätsnachweis sei.
„Die sind in Segeberg restriktiver als alle anderen Ausländerbehörden im Land“, sagt Shorina und öffnet in seinem Computer eine der Dutzenden von Brief-Vorlagen in seinem Word-Programm. Sie sind seine Macheten im dichten Paragrafen-Dschungel des Migrationsrechts. Mit ihnen versucht er, Schneisen auf vermeintlich undurchlässigen Pfaden zu schlagen. Dem Iraker schreibt Shorina nun einen Brief, zum Abgeben bei der Ausländerbehörde, mit dem Verweis auf die Rechtssituation, schön höflich, aber bestimmt gehalten.
Shorina bei der Arbeit zu beobachten, heißt verstehen, wie weit Angela Merkels „Wir schaffen das!“ und der real existierende Integrationsprozess voneinander entfernt sind. Während Merkel von Willkommenskultur redet, werden auf der Arbeitsebene die Schotten dichtgemacht. Durch Bundesgesetze und die unter politischem Druck stehenden ausführenden Behörden. Man lernt, dass der Familiennachzug durch spitzfindige, teils nur noch als zynisch zu bezeichnende Bestimmungen verhindert werden soll. „Ich möchte nicht sagen, dass wir uns hier die nächste Generation von Terroristen heranzüchten“, sagt Shorina. „Aber wie sollen wir Männer ernsthaft integrieren, die hier über Jahre jede Minute ihres Lebens damit verbringen, Angst um Frau und Kinder zu haben?“
Ein Eritreer sitzt nun vor Shorinas Schreibtisch. Er nahm die lebensgefährlich Flucht nach Europa auf sich, seine Frau rettete sich mit drei Kindern in ein Flüchtlingslager im Sudan. Dort braucht sie laufend Geld, um zu überleben, weil korrupte Kräfte humanitäre Hilfe zum schmutzigen Geschäft gemacht haben. Zwei Jahre sind sie schon getrennt.
Und Deutschland sagt diesem Mann, er darf seine Familie gerne holen – aber nur wenn er die Ehe mit einem ganz bestimmten Heiratsdokument einer eritreischen Behörde in der Hauptstadt Asmara beurkundet. Er ist aber nur im Besitz eines Dokumentes von einer anderen, lokalen Behörde.
Nun soll er sich also bei jenen Behörden melden, vor denen er geflüchtet ist, die ihn in der Armee in einem nicht enden wollenden Krieg gegen Äthiopien verheizen wollten. Und die ihm das Dokument nur ausstellen, wenn er sich verpflichtet, ein Leben lang zwei Prozent seines Nettoeinkommens an den Staat abzuführen – die illegale Zwangssteuer für Auslands-Eritreer. Dabei braucht er jeden Cent für das Überleben seiner Frau und Kinder im Sudan.
„Das alles sind K.o.-Kriterien, unerfüllbar.“ Wieder schreibt Shorina einen Brief. Er will einen Weg finden, dass die Heiratsurkunde des Mannes anerkannt wird – irgendwie. Die tiefe Traurigkeit im Blick des stillen Eritreers hellt sich für einen Augenblick auf. Nach dem Termin wartet wieder die Tristesse der Unterkunft, das ohnmächtige Warten, während Frau und Kinder leiden.
Im kleinen Büro herrscht mittlerweile ein ständiges Kommen und Gehen der mehr oder weniger Hilfsbedürftigen. Es geht um Telefonkarten, Wohnungssuche oder Bescheinigungen für Arbeitgeber.
Der Weg nach Norderstedt führt durch Taliban-Gebiete
Taher und Shorina machen nun einem Afghanen klar, dass er seine Frau samt der vier Kinder auf die Reise von Kabul nach Islamabad in Pakistan schicken muss. Nach dem Bombenanschlag auf die deutsche Botschaft in Kabul im Mai ist diese immer noch auf unbestimmte Zeit geschlossen. Termine für die Beantragung des Familiennachzugs gibt es nur bei den Kollegen in Pakistan. Die Wartezeiten betragen Monate. Die Straßen nach Pakistan seien schlecht, sagt der Mann. „Und man muss mitten durch das Grenzgebiet, in dem die Taliban das Sagen haben.“ Aussichtslos? Der Mann geht das Risiko ein und will seine Frau losschicken. Ansonsten bleibt ihm nur das tatenlose Verzweifeln.
Draußen, bei einer Zigarette zwischen der atemlosen Bearbeitung von Schicksalen, spricht Shorina über seine Motivation. „Die Menschen, die Zuflucht bei uns suchen, haben ein Recht darauf, Hilfe zu bekommen, unabhängig von den bürokratischen Hürden. Ich möchte jedem ein kleines Stück Gerechtigkeit zukommen lassen – oder ihm zumindest dabei helfen.“ Wenn das klappt, dann sei das ein unheimlich tolles Gefühl, der ideelle Lohn in seinem Wirken.
Eine jesidische Familie aus dem Irak ist gekommen, deren Schicksal erneut die Absurdität beim gesetzlich verordneten Familiennachzug beschreibt. Nachdem die Schergen des Terrornetzwerkes „Islamischer Staat“ (IS) 22 Verwandte der Familie im Irak abgeschlachtet und mit Dutzenden anderen Leichen in der Wüste verscharrt hatten, schickte der verängstigte Vater der siebenköpfigen Familie seine älteste Tochter und zwei ihrer Geschwister auf die Flucht nach Deutschland. Er selbst rettete sich mit den beiden kleinsten Kindern und der Frau ins kurdische Erbil. Als unbegleitete Minderjährige kamen seine drei ältesten Kinder in Norderstedt an, die mittlerweile 18-jährige Tochter lebt in der Unterkunft Fadens Tannen, besucht die Schule, spricht schon gut Deutsch, darf aber nicht mit ihren Geschwistern zusammenleben. Sie sind im SOS-Kinderdorf untergebracht. „Zusammen leben dürfen sie nur, wenn die Eltern da sind“, sagt Shorina. Das Gesetz gestattet den Nachzug von Mutter und Vater – nicht aber der beiden jüngsten Geschwister. Die müssten allein in Erbil bleiben.
Der verzweifelte Vater setzte sich ins Flugzeug nach Deutschland, zusammen mit der jüngsten Tochter, ließ Frau und das letzte Kind in Erbil zurück. „Ich will doch nur, dass wir endlich alle zusammen leben können, in Frieden“, übersetzt Hero Taher die Worte des geduckten Mannes in dem akkuraten, grauen Anzug. Die tiefen Sorgenfalten im Gesicht des Mannes werden vom Display seines Handys ausgeleuchtet. Darauf sind die fröhlichen Bilder aus einer besseren Zeit zu sehen, als die vom IS getöteten Verwandten noch lebten. Junge Männer, Frauen, Kinder und Babys.
Dazwischen plötzlich das Bild einer Wüste. „Hier liegen sie begraben. Der IS wollte uns nicht zu ihnen lassen. Wir wissen nicht genau, wo sie liegen.“
Jedes Detail zählt im Gespräch mit dem Asyl-Sachbearbeiter
Um den Traum vom Zusammenleben der Familie wahr werden zu lassen, muss der Vater nun ein eigenes Asylverfahren anstrengen. Shorina und Taher bereiten ihn auf das alles entscheidende Gespräch bei der Bundesbehörde für Asyl in Neumünster vor. „Wenn Sie den Satz hören: Jetzt haben Sie die Möglichkeit, sich zu ihren Fluchtgründen zu äußern, dann müssen Sie alles erzählen – wirklich alles!“ Am besten jeden Namen der getöteten Verwandten, das Datum und die Uhrzeit ihrer Ermordung, welches Wetter an diesem Tag war und ob der IS-Mann eine Narbe im Gesicht hatte – je mehr überprüfbare Details, umso besser.“ Davon hängt die gemeinsame Zukunft seiner Familie in Deutschland ab.
Zigarettenpause. Der jesidische Vater bietet irakische Zigaretten an, dünn und lang, sehr kräftig. „Im Irak – zwei Packs, one Euro. Hier, Deutschland, one Pack five Euro!“ Er zieht die Augenbrauen hoch. Vieles in der Heimat ist besser als in Deutschland. Nur die überlebenswichtigen Dinge leider nicht.
Mike Shorina hat jetzt Feierabend. „All diese Menschen haben bei Weitem in ihrem Leben nicht so viel Glück gehabt wie wir. Wir leben in einem der reichsten Länder der Erde und müssen uns über existenzielle Dinge wie den Tod durch Krieg und Verfolgung keine unmittelbaren Sorgen machen. Ich gehe nun nach Hause und umarme meine beiden Kinder. Die Menschen hier in der Unterkunft gehen auf ihre Zimmer und verzweifeln leise weiter.“ So lange bis Mike Shorina, Hero Hewa Taher und Iman Mikha zur nächsten Beratung bitten und der Hoffnung Nahrung geben.