Wilstedt. Ort hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr verändert. Viele Alteingessene bedauern das – die Zugezogenen schätzen das Leben im Dorf.

Er ist der 1661. Bürger von Wilstedt und damit der jüngste. Dries Fernolendt guckt vom Arm seiner Mutter über den Wilstedter Dorfplatz zur Wache der Freiwilligen Feuerwehr Wilstedt und zum kleinen Dorfteich. Er lebt mit seiner dreijährigen Schwester Caroline und seinen Eltern Fabienne und René Fernolendt dort, wo der Bauernhof der Familie Klaus Meyer stand, einer von vielen Bauernhöfen in Wilstedt und ebenso wie die anderen einst reetgedeckt.

Vor einigen Wochen wurde eines der letzten alten Bauernhäuser abgerissen, das ebenso ortsbildprägend war – das Anwesen der Familie Ahlers. Dort, wo es stand, gegenüber der ebenfalls abgerissenen Gaststätten „Die Mühle“ und „Die Birke“, klafft jetzt eine große Lücke. Geblieben ist der Gedenkstein an die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges, der 1954 in Wilstedts Ortsmitte, im großen Dreieck zwischen Harksheider Straße/ Dorfring und Tangstedter Straße errichtet wurde.

Wehmut ergreift viele Wilstedter, die in diesem Dorf aufwuchsen, angesichts der rasanten Veränderung des Dorfbilds. Wer lange Zeit nicht hier war, kann es oft kaum fassen, dass wieder eines der historischen Bauernhäuser einfach verschwunden ist. Andererseits bieten die Baulücken Raum für Neues, neue Reihenhäuser und Wohnblocks, Platz für neue Bürgerinnen und Bürger, Familien, die das alte Dorf mit Leben erfüllen.

„Das Leben gefällt uns hier richtig gut“, sagt Fabienne Fernolendt. Die 32-Jährige hat vor vier Jahren mit ihrem Ehemann (36) das Haus am Dorfplatz gebaut. „Ich muss ums Haus herumgehen können“, sagt die Pharmazeutisch-technische Assistentin, die in einer Hamburger Apotheke arbeitet. „Mir ist wichtig, dass meine Kinder nicht in der Anonymität einer Großstadt aufwachsen“, sagt René Fernolendt. Der Hamburger Polizeibeamte kommt aus Brandenburg. „Dort ist es ebenfalls ländlich, das hat mich geprägt“, sagt der junge Vater, der seinen Kindern eine ebensolche entspannte Kindheit und Jugend wünscht. Es brauche zwar lange, bis Neubürger mit den Wilstedtern warm werden, doch dann entwickelten sich herzliche Freundschaften, sagt er.

Die Familie Fernolendt wohnt in einer Idylle, denn Klaus Meyer, Verkäufer der Bauplätze auf seinem ehemaligen Bauernhof, habe genau auf Bauweise und Stil der Häuser geachtet.

Wilstedts Historie

Wilstedt gehört zu den ältesten Dörfern sächsischer Siedlungen.

Der Ort hieß früher Wedelstede, dann Welstede und anschließend Wilstedt, d. h. Stätte an der Furt. Sie diente dem Verkehr durch die sumpfigen Alsterniederungen.

1292 wird Wilstedt zum ersten Mal erwähnt. Durch die Alsterregulierung 1740 wurde aus dem Sumpfgebiet bei Wilstedt fruchtbares Weideland.

1970 wurden Wilstedt, Tangstedt und Wulksfelde zur Großgemeinde Tangstedt zusammengelegt.

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„Wir haben uns mit dem Haus den Traum vom Eigenheim erfüllt“, sagt Fabienne Fernolendt. „Bis wir das Haus hier bauten, war uns die Umgebung von Norderstedt und Tangstedt gänzlich unbekannt“, sagt das Paar. Aber gerade wegen der noch vorhandenen Bauernhöfe, der übersichtlichen Verteilung der Wohnflächen, der Landschaft und der Stille habe ihnen Wilstedt gut gefallen: „Es ist eine andere Stille, eine, in der das Brummen eines Flugzeugs sofort auffällt.“ Auch das gute Miteinander sei Lebensqualität: „Es ist unmöglich, anonym zu bleiben wie in der Großstadt.“ Schnell seien sie Mitglied im Wilstedter Sportverein, beim Roten Kreuz und der Freiwilligen Feuerwehr Wilstedt geworden.

Allerdings sei der Weg zum Kindergarten wegen des Durchgangverkehrs, vor allem der Lkws, gefährlich. „Wir gehen den Dorfring zum Kindergarten nur im Entenmarsch“, sagt Fabienne Ferno­lendt. Ein Minuspunkt sei auch die Nahversorgung, die ohne Auto fast nicht machbar sei, wenn man etwa zu den Supermärkten nach Tangstedt wolle. Es fehle im Übrigen ein Drogeriemarkt. Frische Brötchen gebe es aber jeden Morgen vom Wilstedter Bäcker und neuerdings mit dem „Rio“ im Wilstedter Sportvereinshaus auch endlich ein Restaurant. „Ein Café wäre Gold wert und würde sich sicherlich lohnen bei den vielen jungen Familien, die hierher gezogen sind“, sagt Fabienne Fernolendt.

Eine, die in Wilstedt geboren ist und zu den ältesten Bürgerinnen und Bürgern gehört, ist Irene Jenkel. Als Irene Ernst kam sie am 21. März 1929 am Dorfrand in der Gärtnerei Wilhelm Ernst zur Welt. Die Gärtnerei hat sich von einem kleinen Glashaus, zu der Landwirtschaft mit Kühen, Schweinen und Hühnern gehörte, zu einem Ensemble mit sechs Glashäusern, einem großen Wohnhaus und vielen Baumschul-Flächen drumherum entwickelt. Irene Jenkel steht immer noch topfit an der Kasse. „Wenn mich Kunden nach meinem Fitness-Rezept fragen, sage ich immer: Äpfel essen, abends ein Glas Wein und gut schlafen“, sagt die 88-Jährige. Für Irene Jenkel ist die Tradition der Gärtnerei selbstverständlich, die inzwischen auch schon nicht mehr von Sohn Martin, sondern von ihren Enkelkindern geleitet wird.

Alles sei ein Lauf der Zeit, auch die Veränderung des Dorfes: „Was soll man machen, das ist so.“ Vier Gaststätten gab es zu ihrer Jugend in Wilstedt, quasi an jeder Ecke des Dorfs eine Kneipe, drei bis vier Kaufläden, eine Schlachterei, zwei Schuster, einen Sattler, drei Tischlereien und Zimmereien, von denen eine auch für die Särge sorgte.

Doch langsam habe ein Geschäft nach dem anderen geschlossen, wurde ein Bauernhof nach dem anderen abgerissen, verschwand ein Reetdach nach dem anderen. „Wilstedt wurde zum Schlafdorf“, sagt Irene Jenkel.

1949 heiratete sie und baute mit ihrem Ehemann die Gärtnerei aus. Bis 1969 gab es Kühe, die Schweinezucht war schon lange aufgegeben worden, es blieben die Hühner. „Am Sonnabendnachmittag gingen wir immer zum Frisör, zu Alwien Kreuz, das war ein Treffpunkt, abends gab es dann den Kameradschaftsabend der Feuerwehr, einmal im Jahr das Ringreiten mit Ball oder die Schulfeste mit Umzug ums Dorf, wobei die Kinder, die bei den Wettbewerben Schützenkönigin und -könig wurden, immer in einer Kutsche vorweg fuhren. Dann kamen die Mädchen mit ihren Blumenbügeln und schließlich die Jungs in kurzen Hosen“, erinnert sich Irene Jenkel an die Feste in Wilstedt.

Die Veränderungen seien allmählich gekommen. „Doch es gab Neues, es ging weiter, und ich gucke immer nach vorn“, sagt die Seniorin. „Der Charme vom Dorf ist aber weg“, sagt Schwiegertochter Jutta Jenkel.

Einer, der die Veränderung Wilstedts sehr bedauert, ist Hartmut Schwarzlos. Sein Bruder Thomas Schwarzlos ist einer der letzten Landwirte in Wilstedt, dessen Haus am Dorfring noch ein Reetdach trägt und dessen Kühe gleich neben dem Wohnzimmer im Stall stehen. Thomas Schwarzlos bewirtschaftet einen Vollerwerbshof mit 60 Rindern, davon ein Drittel Milchkühe. Die dürfen im Sommer auf die Weide ins grüne Gras, eine letzte Idylle. Sie werden dort auch gemolken.

„Mein Bruder ist einer von 220 Landwirten in Schleswig-Holstein, die noch draußen melken“, sagt Hartmut Schwarzlos stolz. Die Familie baut Hafer und Roggen an, einmal fürs Getreide, mehr aber noch, damit die Tiere im Stall auf Stroh stehen können. Für die Kälber wird im Stall Heu gestreut.

„Wilstedt wird immer weniger Dorf, alle alten Häuser werden abgerissen, das Dorfbild gibt es nicht mehr, stattdessen grobe Häuserblocks wie gegenüber dem Großen Teich, ein Schandfleck für Wilstedt“, sagt Hartmut Schwarzlos. Auch der Bauernhof Paul Meyer gleich nebenan stehe zum Verkauf, die Kühe seien schon lange fort, die Landwirtschaft sei aufgegeben worden. „Das wird wohl der nächste Abriss sein“, befürchtet Schwarzlos. Froh ist er allerdings über das Restaurant „Rio“ im Haus des WSV. „Endlich kann man im Dorf wieder ein Bier trinken gehen“, sagt Schwarzlos.

Um 1900 gab es in Wilstedt noch fünf Gastwirtschaften, die älteste war die von Heinrich Heini Rehders, der gegenüber der Wilstedter Mühle mit seiner Ehefrau, genannt Fips, das Gasthaus „Zur Birke“ führte. In seiner gemütlichen Art war er beliebt bei seinen Gästen, auch bei den Kindern, denen er schon mal eine Brause ausgab. Bei ihm fanden in der Adventszeit Spielturniere für Kinder statt, zu gewinnen gab es große braune und weiße Kuchen mit ganzen Mandeln. Doch Heini Rehders hatte keine Kinder. 1992 wurde „Die Birke“ geschlossen und zur Herberge von 18 Asylbewerbern. 1997 war alles vorbei. Die Abrissbirne erledigte, was über Jahrhunderte vielen ein zweiten Zuhause war, inklusive Laube im verwunschenen Gastgarten. 2009 folgte der Abriss der „Wilstedter Mühle“, nun der des Ahlersschen Anwesens, einst eine florierende Huf-Schmiede mit Räucherkammer – Wilstedts malerischer Ortskern ist dahin.

„Das Grundstück gehört der Firma Eisele aus Henstedt-Ulzburg, und über die Nutzung hat der Tangstedter Planungsausschuss noch keinen abschließenden Beschluss gefasst, gewollt sind keine Reihenhäuser, sondern auch Geschossbau und eventuell zur Straße Häuser für Gewerbe“, sagt Raymund Haesler (70) Tangstedts Archivar, SPD-Politiker und pensionierter Schulleiter.

Ob Wilstedt je wieder den Titel „Schönstes Dorf“ erhalten wird? 1962 und 1963 holte sich das Runddorf, das sich für diesen Wettbewerb festlich herausputzte und sogar die Misthaufen fein aufschichtete, die Auszeichnung gleich zweimal hintereinander. Tangstedt hat diese Auszeichnung nie erhalten. Nur Wilstedt.