Heidmühlen. Viele Ereignisse sind in Vergessenheit geraten. Das Abendblatt hat sich auf Spurensuche begeben und spannende Geschichten entdeckt.

Bestattungen im Wald werden immer beliebter: Bundesweit gibt es kommerzielle Anbieter, denen sich Hinterbliebene anvertrauen können. Aber so einfach ist es nicht: Die Vorschriften sind streng, vor allem aber dürfen natürlich keine Särge unter Bäumen eingegraben werden, außerdem sind die Flächen begrenzt, die Lagen genau vorgeschrieben. Im Kreis Segeberg ist es nicht anders als im übrigen Deutschland. Dennoch gibt es hier eine ganz besondere Ruhestätte: Mitten im Segeberger Staatsforst, dem zweitgrößten zusammenhängenden Waldgebiet Schleswig-Holsteins, gibt es ein richtiges Waldgrab.

Hans-Joachim Schönfeld starb 1934, er wurde nur acht Jahre alt
Hans-Joachim Schönfeld starb 1934, er wurde nur acht Jahre alt © HA | Frank Knittermeier

Jahrzehnte war es geheimnisumwittert, unzählige Legenden und Erzählungen kursierten um die Grabstätte, die zwischen Wahlstedt und Heidmühlen tief im Wald liegt, Spaziergängern aber gleichwohl zugänglich ist. Bis heute kursieren Gerüchte. Es gibt nur wenige Menschen, die die Wahrheit kennen.

Die Frage, was hier geschehen ist, ließ und lässt viele Menschen nicht los. Noch immer stehen gelegentlich Spaziergänger in tiefer Andacht vor dem mit Holzlatten eingezäunten Grab mit dem Grabstein, der besagt, dass hier vor 83 Jahren ein Kind beerdigt wurde: Hans-Joachim Schönfeld, am 20. Oktober 1925 geboren, am 16. Juni 1934 verstorben. „Gottes Wille kennt kein Warum“, steht auf dem Stein.

Die ganze Grabanlage ist erstaunlich gut gepflegt: Die Försterei Glashütte hat die Aufgabe übernommen, das Grab zu betreuen. Es liegt im Niemandsland: Dieser Bereich des Forstes ist gemeindefrei. Es liegt zwar nahe am Heidmühlener Ortsteil Glashütte, gehört aber nicht dazu.

Ein inzwischen verstorbener Einwohner der Gemeinde Boostedt, Jahrgang 1925, hat sich Zeit seines Lebens mit dieser Grabstätte beschäftigt und viele Legenden, die sich darum ranken, aufgeschrieben. Heute liegt die Niederschrift des Boostedters bei seiner Witwe, die den Bericht als Andenken an vergangene Zeiten aufbewahrt und nur denjenigen zeigt, die sich wirklich für die Geschichten rund um das Grab interessieren. Sie könnten Stoff für einen Roman sein.

Wie entstanden also die Legenden? In einer Gaststätte in Latendorf, der damals 18-jährige Chronist war dabei, wurden ausquartierten Hamburgern, denen man ohnehin misstraute und die dazu auch noch Hochdeutsch sprachen, von der Landbevölkerung aufgeklärt: „Dat is so“, fing einer der Einheimischen an und steckte sich die Pfeife wieder in den Mund, „denn hebbt sie dodschaaten bi de Drivjagd.“ Bei der Treibjagd erschossen also. Und weiter: „De is’ gliks inbuddelt wordn. Aber ‘n Steen het he kreegen nach altem Waidmannsbrauch!“ Latendorfer Tobak, aber die Hamburger waren entsetzt. Noch 15 Jahre später traf der Boostedter Chronist eine Gruppe Hamburger Ausflügler am Grab, die sich genau diese Geschichte erzählten.

Viele Legenden ranken sich um den Tod des Jungen

Andere Legenden wurden ebenso willkürlich in die Welt gesetzt. Bei seiner Spurensuche stieß der Boostedter auf einen Sägewerksbesitzer, der beim Einkauf von Holz einigen im Wald spielenden Kindern mit dem Hinweis auf das Grab zu verstehen gab, sie sollten aufpassen, wenn demnächst das Holz abgeholt werde. Da seien auch schon mal Kinder unter den Stamm gekommen. „Da hinten liegt er begraben, schaut euch das ruhig an.“ Dieser Satz machte offenbar die Runde, und noch Jahrzehnte später glaubten die inzwischen ins Rentenalter gekommenen Kinder von damals die Erzählung.

Mit einer anderen Geschichte sollten freche Kinder zur Vernunft gebracht werden. So wurde ihnen berichtet, ein Junge sei einfach im Wald ausgesetzt worden, wo er dann verhungert sei. Und weiter: Vergiftete Pilze, vom Blitz getroffen – es gibt offenbar viele Versionen über den Tod des Jungen, der mitten im Wald begraben ist.

Die Wahrheit ist schlicht: Der achtjährige Hans-Joachim verstarb an Tuberkulose. Ob es vor 80 Jahren in Deutschland noch die Möglichkeit gab, sich im Wald bestatten zu lassen, ist heute unklar. Möglicherweise konnte die Familie Schönfeld die Angelegenheit auf dem „kleinen Dienstweg“ regeln: Der Vater des verstorbenen Jungen war Büroleiter in der Försterei. Der Chronist kommt zu dem Schluss; „Jeder muss sich seine eigenen Gedanken über das Leben und den Tod machen. Was dieses Grab vielen gibt, das kann mancher Friedhof nicht. Die wunderbare stille Schönheit des Waldes, die Freiheit des Denkens im Wald...“

Revierförster Matthias Sandrock hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Grabstätte zu erhalten. Er hat sogar ein kleines Hinweisschild am Wegesrand aufstellen lassen. „Es gibt Sachen, die bewahrt werden müssen“, sagt er. „Dieses Grab gehört dazu.“