Bad Segeberg. Viele Ereignisse sind im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten. Das Abendblatt hat spannende Geschichten entdeckt. Heute: der Höhlenkäfer.
Die Segeberger Kalkberghöhle ist ein einzigartiges Naturdenkmal: Die zweitgrößte Gipshöhle Deutschlands (Länge 2260 Meter) ist das Winterquartier von etwa 25.000 Fledermäusen. Für Besucher zugänglich ist die Höhle nur in den Sommermonaten: Dann ist es wahrscheinlich, dass sie einige der rund 800 auch im Sommer hier lebenden Fledermäuse sehen.
Aber das eigentliche Wunder der Kalkberghöhle ist nur einen halben Zentimeter groß und lebt zurückgezogen in Felsspalten. Der Segeberger Höhlenkäfer ist ein so geheimnisvolles Wesen, dass Höhlenbesucher ihn sicherlich noch nie bemerkt haben. Dieser Käfer lebt im Verborgenen – und: Er lebt nur in Bad Segeberg. In keinem anderen Land auf der Welt, in keiner anderen Höhle und auch in keinem Zoo ist der Choleva lederiana holsatica heimisch. Nur eben hier: In den Felsspalten der Segeberger Kalkberghöhle. Alle Nachzuchtversuche sind bisher gescheitert.
Der kleine Krabbelkäfer ist tatsächlich eines der größten Geheimnisse im Kreis Segeberg. Einer der wenigen Menschen, die diesen Käfer jemals gesehen haben, ist die Biologin Anne Ipsen, eine der drei Geschäftsführerinnen des Fledermauszentrums Noctalis am Segeberger Kalkberg. Niemand sonst hat sich so eingehend mit dem geheimnisvollen Wesen im ewigen Dunkel der Kalkberghöhle beschäftigt. Die Wissenschaftlerin hat ihre Doktorarbeit über das Insekt geschrieben und weiß daher so gut wie alles über den Höhlenkäfer. Das Wichtigste: Dieser Käfer ernährt sich von den Exkrementen der Fledermäuse, die hier im Winter „abhängen“. Außerdem frisst er die Kadaver verstorbener Fledermäuse. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Die Kalkberghöhle ist blitzsauber. Fledermauskot oder -leichen sind hier nicht zu finden.
Anne Ipsen weiß auch ziemlich genau, wie viele Exemplare des Käfers hier leben: rund 10.000 nämlich. Um zu diesem Ergebnis zu kommen, hat sie private Zählungen veranstaltet: „Käse unter einem Blumentopf lockt die Käfer an“, sagt die Wissenschaftlerin. „Die bleiben, so lange es Käse gibt.“ Da die Käfer sich also lange an einer solchen Lockstelle aufhalten, konnte sie in Ruhe zählen und hochrechnen.
Die Natur hat alles wunderbar zusammengefügt: Mitte Juli paaren sich die Höhlenkäfer, und die Weibchen legen die relativ geringe Zahl von 30 Eiern ab. Mit der Rückkehr der ersten Fledermäuse Ende August beginnt der Schlupf der Käferlarven, die sich nach wenigen Wochen verpuppen. Ab Mitte November schlüpfen dann die Käfer – also genau zu dem Zeitpunkt, wenn die meisten Fledermäuse in der Höhle sind und es Nahrung im Überfluss gibt. Ein ausgeklügeltes ökologisches System.
Die Käfer leben seit mehreren Tausend Jahren isoliert
Im Sommer leben die Käfer im Energiespamodus, um die Kräfte zu schonen. Die normale Lebensdauer eines Käfers liegt zwischen zehn und elf Monaten. Einige aber schaffen auch 20 Monate. „Das ist ein doppelter Boden der Natur“, sagt Anne Ipsen. „Wir sprechen von einem Risikoüberhang, damit eventuelle Verluste ausgeglichen werden können, um die Art nicht aussterben zu lassen.“
Das Risiko des Artensterbens aber ist recht gering. So lange es Fledermäuse in der Höhle gibt, ist ausreichend Futter vorhanden. Fressfeinde gibt es nicht, höchstens Wasser und Schimmel können dem Käfer gefährlich werden. Da erscheinen die Proteste von Umweltschützern, die den Bau der Autobahn 20 aus Rücksicht auf die Fledermäuse verhindern wollten, plötzlich in einem ganz anderen Licht. Das ganze kleine ökologische System in der Höhle würde zusammenbrechen, wenn die Fledermäuse ausblieben.
Warum aber gibt es diesen einzigartigen Käfer tief unter Bad Segeberg in einem einzigartigen Höhlensystem. Anne Ipsen und vor ihr einige wenige andere Wissenschaftler haben herausgefunden, dass der Käfer seit etwa 5000 bis 10.000 Jahren isoliert lebt. Nach der letzten Eiszeit vor etwa 15.000 Jahren ist er am Kalkberg geblieben und hat sich in die Höhle zurückgezogen, wo die klimatischen Bedingungen in etwa so waren wie draußen. Seitdem hat es mehrere Tausend Käfergenerationen gegeben – Zeit genug, um sich den Temperaturen und der Umgebung anzupassen. Die Durchschnittstemperatur in der Höhle ist in den vergangenen 100 Jahren um ein Grad auf 10 Grad Celsius gestiegen. „Ein deutliches Zeichen des Klimawandels“, erläutert Anne Ipsen.
Die Käfer haben zwar Flügel, können aber wohl nicht fliegen
Der Höhlenkäfer hat lange Beine, mit denen er den Untergrund abtasten kann, auch die vielen Haare sind Tastinstrumente. Sie laufen schnell und gewandt, sind aber, obwohl sie voll ausgebildete Hinterflügel besitzen, noch nie fliegend beobachtet worden. Und so wird es auch bleiben: Der Höhlenkäfer ist und bleibt ein Segeberger. Ausschwärmen kommt vermutlich auch in den nächsten Jahrtausenden nicht infrage.
Aber die Segeberger Kalkberghöhle birgt noch ein zweites Geheimnis. Tief in einem der zahlreichen und für die Besucher nicht begehbaren Höhlengänge steht ein Seismograph, der jede Erdbewegung registriert. Seit dem 20. Dezember 1995 steht der zylinderförmige Kasten exakt auf der Schnittstelle des 53,935. Breiten- und 10,317. Längengrads. Betreiber ist das Observatorium der Geophysikalischen Institute der Universität Hamburg. Eine an einer Feder aufgehängte Masse und ein kleiner Magnet darunter sorgen dafür, dass auch kleinste Erdbewegungen registriert werden. Wenn die Erde irgendwo auch nur einen millionstel Millimeter in Bewegung gerät, werden in der Kalkberghöhle Daten aufgezeichnet und an die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe weitergeleitet. Von dort gelangen sie zum weltweiten Sammelzentrum in Denver (USA).
Die seismische Messstation registrieren auch Erschütterungen durch vom Menschen verursachte Ereignisse, wie beispielsweise Kernwaffentests. Regelmäßig betreut wird der Seismograph von Anne Ipsen und Mitarbeitern im Fledermauszentrum Noctalis.
Voraussagen lässt sich ein Erdbeben nicht, aber die in Bad Segeberg aufgezeichneten Daten tragen zum Gesamtbild der erdbebengefährdeten Gebieten bei.