Norderstedt. Im Abendblatt-Interview spricht die GEW-Bundesvorsitzende Marlis Tepe aus Hüttblek über die Situation von Schulen und Erziehern.

Marlis Tepe stammt aus Stuvenborn, ging in Bad Segeberg zur Schule und wohnt heute in Hüttblek. Von 1979 an arbeitete sie in Sülfeld als Lehrerin, seit 1989 in Nahe. Am 13. Juni 2013 wurde sie zur Bundesvorsitzenden der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) gewählt und im Mai dieses Jahres für eine zweite Amtszeit wiedergewählt. Das Abendblatt hat mit der 63-Jährigen über die verschiedenen Probleme an den Schulen in Norderstedt und der Region gesprochen. Dabei stand ihre bundes- und landespolitische Sicht auf die Entwicklungen vor Ort im Mittelpunkt.

Sie sind als Lehrerin der Schule im Alsterland in Nahe seit einigen Jahren freigestellt. Können Sie kurz erzählen, wie Sie Bundesvorsitzende der GEW geworden sind?

Marlis Tepe: Ich habe mich seit Beginn meines Lehrerinnendaseins für unsere Arbeitsbedingungen und für Bildungspolitik interessiert, die Gewerkschaft als sehr wichtige und gute Interessensvertretung gesehen. Ich war GEW-Ortsvereinsvorsitzende in Sülfeld, im Kreisvorstand und habe mich als Personalrätin für den Bezirkspersonalrat aufstellen lassen. Dann bin ich in den Landesvorstand gegangen, wurde Personalratsvorsitzende im Hauptpersonalrat. Als ein Bundesvorsitzender gesucht wurde, bin ich von vielen angesprochen worden, habe mehrere Monate überlegt, dann kandidiert – und bin gewählt worden.

Was macht die Arbeit als Gewerkschaftsvorsitzende aus?

Es ist spannend, auf der Bundesebene Themen zu bewegen und die Arbeit der GEW-Landesverbände zu koordinieren. Außerdem ermöglicht mir das auch einen Blick über den Tellerrand Deutschlands hinaus, da ich auch stellvertretende Vorsitzende der Bildungsinternationale bin. Diese vertritt weltweit mehr als 30 Millionen Pädagoginnen und Pädagogen.

In Deutschland ist Bildungspolitik Ländersache. In Schleswig-Holstein war zuletzt die Frage nach G8 oder G9 an den Gymnasien ein wichtiges Wahlkampfthema. Im kommenden Schuljahr müssen die Schulkonferenzen auch im Kreis Segeberg darüber abstimmen, wie lange ihre Schüler zum Abitur brauchen: acht oder neun Jahre. Was ist in Ihren Augen der richtige Weg?

Beide Varianten sind möglich. Grundsätzlich hat die GEW gesagt, dass wir es schwierig finden, Bildungszeiten zu verkürzen – vor allem, wenn solche Veränderungen über das Knie gebrochen werden und konzeptionell nicht zu Ende gedacht sind. Die Verkürzung ging vom Interesse der Wirtschaft aus, die die jungen Menschen früher aus dem Studium in die Betriebe haben wollte. G8 war dann ein guter Weg für diejenigen, die schnell lernen. Wer ein bisschen mehr Zeit braucht, konnte den Weg über die berufsbildenden Schulen und die Gemeinschaftsschulen gehen. Die Frage ist ideologisch überhöht worden. Die GEW schlägt vor, den jungen Menschen in der Oberstufe die Wahl zu lassen, ob sie diese in zwei oder drei Jahren absolvieren.

In Norderstedt werden 60 Prozent der Schülerinnen und Schüler am Gymnasium angemeldet, nur 40 Prozent an Gemeinschaftsschulen. Dabei schafft dann ein Drittel der Schüler am Gymnasium das Abitur nicht. Wie bewerten Sie die Entwicklung?

Unsere Zielvorstellung ist eine Schule für alle Kinder – eine Schule, an der die Schülerinnen und Schüler aller Begabungen lernen. Nun ergibt es sich, dass viele von ihnen den Weg zum Abitur über das Gymnasium wählen, das sich wahrscheinlich noch stärker verändern muss, damit die Schülerinnen und Schüler auch den Abschluss schaffen. Kinder und Jugendliche brauchen die Sicherheit, gestärkt und nach vorne getragen zu werden – und nicht schon früh das Gefühl des Versagens.

Ihr Ziel ist die Schule für alle, dieses Ziel stand auch hinter der Gemeinschaftsschule. Da aber gleichzeitig das Gymnasium bestehen bleibt, wird die Gemeinschaftsschule eine Art Resteschule mit der Folge, dass beispielsweise in Norderstedt die Anmeldezahlen an einigen Schulen stark gesunken sind.

Das war unsere große Sorge von Anfang an. Die Gemeinschaftsschule muss so ausgestattet werden, dass Schülerinnen und Schüler aller Begabungen gut lernen können. Ich glaube, gute ehemalige Gesamtschulen wie die Willy-Brandt-Schule in Norderstedt haben weiterhin Zulauf. Die anderen Schulen in Norderstedt waren nicht darauf ausgerichtet, eine Oberstufe zu haben und sich dahin weiterzuentwickeln.

In Ihrer Schule, der Schule im Alsterland, wurde auch über eine eigene Oberstufe diskutiert, aber keine eingerichtet. Liegt das auch an fehlenden Lehrern?

Das glaube ich nicht. Man braucht eine gewisse Schülerzahl, um eine Oberstufe anzubieten. Ein klügerer Weg im Land wäre vielleicht gewesen, von Klassenstufe fünf bis zehn die Schülerinnen und Schüler zusammenzufassen und danach eine Oberstufe anzuschließen. In Niedersachsen gibt es sogar eine Dreiteilung: Orientierungsstufe, Mittelstufe und dann Oberstufe.

Sollten sich die Schulen im Wettbewerb um die Schüler besser profilieren? Die Gemeinschaftsschule Harksheide beispielsweise hat den Schulpreis des Landes gewonnen, ihre Anmeldezahlen sind gut.

Die CDU-FDP-Regierung wollte mit der Konkurrenz unter den Schulen die Qualität verbessern. Das hat den Nachteil, dass man kritische Dinge nicht mehr so leicht nach außen tragen kann. Früher konnte ein Schulleiter der „Segeberger Zeitung“ oder dem Hamburger Abendblatt ein Interview geben und sagen: An unserer Schule ist die Physikausstattung schlecht. Dann entstand Druck, und es wurde etwas verbessert. Heutzutage kann keiner etwas Kritisches über seine eigene Schule sagen, weil er befürchten muss, dass die Anmeldezahlen sinken.

Ein weiteres Problem ist, dass die kleinen Grundschulen von der Schließung bedroht sind und sich oft nur über Kooperationen retten lassen. Sie sind dann unattraktiv für Lehrkräfte und für Schulleiter. Was wäre aus Ihrer Sicht ein Ausweg?

Das ist bei uns vor Ort auch so: Oering, Struvenhütten und Sievershütten sind jetzt zu einer Schule mit drei unterschiedlichen Schulstandorten verschmolzen. Wir fordern, dass die Lehrkräfte an den Grundschulen besser bezahlt werden müssen, insbesondere auch die Schulleitungen. Wer will für das Geld noch eine Schulleitung übernehmen? Das Amt bedeutet einen hohen Zeiteinsatz und viel Verantwortung. Wir fordern die Besoldungsstufe A13 auch für die Grundschule, bisher wird nach A12 besoldet. Berlin und Brandenburg haben damit angefangen, ihre Grundschul-Lehrkräfte besser zu bezahlen, alle anderen Bundesländer müssen nachziehen.

Die GEW

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft wurde 1948 gegründet. Mehr als 280.000 Mitglieder arbeiten in pädagogischen und wissenschaftlichen Berufen.

Es gibt 16 Landesverbände, die größten sind Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Etwa zwei Drittel der Mitglieder sind im Bereich Schule organisiert.

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Anfang Juni herrschte Aufregung darüber, dass an der Gemeinschaftsschule auf dem Rhen strickte Regelungen bei der Nutzung von Handys gelten. Diese dürfen nicht benutzt werden – andernfalls drohen Einträge ins Klassenbuch und Nachsitzen sowie im schlimmsten Fall der Besuch einer Suchtberatung. Wie sollte mit der Digitalisierung an den Schulen umgegangen werden?

Natürlich muss man die digitalen Medien in den Unterricht einbeziehen. Sie sind ein Teil unserer Gesellschaft und Kultur. Die Schülerinnen und Schüler müssen lernen, die Geräte wirklich zu beherrschen und Medienkompetenz zu entwickeln. Die GEW setzt sich dafür ein, dass im Grunde genommen allen Lehrkräften auf diesem Gebiet mehr und bessere Fortbildungen angeboten werden, um bessere Kenntnis der digitalen Medien zu entwickeln – finanziert vom Staat, und nicht von der Industrie. Darüber hinaus muss jede Schule aushandeln, wann man die Handynutzung verbietet oder wie die Schule gestaltet wird, damit das Handy nur zu Unterrichtszwecken genutzt wird. Cybermobbing ist ja die Negativseite. In einer Schule, in der es viel Mobbing gab, kann man zu so strikten Verbotsregelungen kommen.

Die GEW organisiert auch Erzieherinnen und Erzieher. Derzeit fehlen allein in Norderstedt 16 Fachkräfte in städtischen und kirchlichen Kitas. Warum?

Erstens ist der Beruf materiell nicht attraktiv genug. Zweitens ist die Ausbildung sehr lang und umfänglich – das ist auch richtig und notwendig, aber für eine so lange Ausbildung muss es mehr Geld geben. Die Gewerkschaften und die Erzieherinnen haben in dieser Frage in den jüngsten Tarifrunden erste Erfolge erkämpft, aber der Aufwertungsprozess muss weiter fortgesetzt werden. Schließlich ist der Bedarf an Kitaplätzen und Betreuungszeiten in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Als ich 1995 nach Hüttblek gezogen bin, gab es bei uns in der Kita eine Öffnungszeit von 8 bis 12 Uhr. Inzwischen ist die Einrichtung von 7 bis 17.30 Uhr geöffnet und bietet auch Nachmittagsgruppen für Schulkinder an.

Die Stadt Norderstedt will kurzfristig FSJler in die Kitas holen. Kann das eine Lösung sein?

Ich halte es für falsch, ja sogar eher für schädlich, FSJler in größerer Zahl in die Kitas zu bringen. Die einzige Möglichkeit, dieser Notsituation zu begegnen, ist ein berufsbegleitendes Erlernen des Berufes. Bei einer begleitenden Qualifizierung würde jemand zunächst drei Monate vor- und dann neben dem Beruf weiter ausgebildet. Natürlich würde sich die Zeit verlängern, aber durch die Bezahlung während der Ausbildung lässt sich das machen.

Was könnte eine Stadt wie Norderstedt konkret unternehmen?

Sie müsste sich als Kommune dafür einsetzen, dass mehr Fachhochschulplätze für die Erzieherinnenausbildung vorgehalten werden. Auch könnte sich die Stadt dafür stark machen, dass die Menschen in der Erzieherinnenausbildung Geld bekommen – bisher müssen sie für ihre Ausbildung zahlen. Die Bundesregierung muss die Länder und Kommunen besser mit Geld für Bildung, Personal und Räume ausstatten. Wenn ich an die Schule in unserem Einzugsbereich denke, die Schule in Sievershütten, dann ist die einfach in einem sehr schlechten Zustand. Sie ist in den 1960er-Jahren gebaut worden: ein Flachdachbau. Da regnet es an vielen Stellen rein.

Vor zwei Jahren hat die GEW zusammen mit ver.di gestreikt, mit großen Auswirkungen auch in Norderstedt. Werden in Zukunft weitere Streiks notwendig sein?

Bei der Bezahlung hat es Strukturverbesserungen gegeben: bis zu 25 Prozent mehr Gehalt. Da werden die Gewerkschaften dranbleiben. 2020 müssen sich die Kommunen wieder auf größere Streiks einstellen, wenn die Arbeitgeber sich nicht bewegen. Die Bevölkerung hat verstanden, dass die Erzieherinnen und Erzieher eine wichtige Aufgabe leisten. Es würde jedem Politiker gut anstehen, noch mehr Geld in die Hand zu nehmen, das würden die Bürgerinnen und Bürger auch verstehen. Dann werden Streiks nicht notwendig sein.