Norderstedt. Bienenstöcke am Rathaus und Gemüsebeete für jedermann – zwei Projekte von Jelena Jurth, neue Koordinatorin für Biologische Vielfalt.

Zielstrebig geht sie auf die Wiese. „Da sind sogar ein paar Bienen“, sagt Jelena Jurth und zeigt auf die blühenden Blumen. Das Fotomotiv passt, symbolisiert, was die 31-Jährige mit Ehrgeiz und Energie voranbringen will: Biodiversität, ein sperriger Fachbegriff, biologische Vielfalt klingt da schon anschaulicher. Die Hamburgerin, die in Freiburg studiert hat, arbeitet seit Kurzem im Norderstedter Rathaus.

Ihr Auftrag im Amt Nachhaltiges Norderstedt: Sie will den Menschen in der Stadt nahebringen, wie existenziell der Artenschutz ist, wie wichtig es ist, Bäume nicht unbedarft zu fällen, Wiesen und Äcker nicht zu bebauen, Straßen in die Feldmark nicht zu asphaltieren. Mit dem neuen Schwerpunkt schafft Norderstedt einen weiteren Baustein, um das innovative und auf Nachhaltigkeit ausgelegte Image weiter zu verbessern. Die neue Mitarbeiterin hat auch schon konkrete Projekte in Arbeit, die sie den Politikern im Umweltausschuss vorgestellt hat. Die „essbare Stadt“, blühende Gewerbegebiete und ganz viel Aufklärung. „Neben dem Klimawandel ist der Verlust des Artenreichtums bei Pflanzen und Tieren das weltweit größte Problem“, sagt die Koordinatorin für Biologische Vielfalt und landet wieder bei den Bienen.

Deren Zahl schrumpft. Sie finden immer weniger Nahrung. Die Monokultur auf den Feldern, wo Mais als Nahrung fürs Vieh und die Biogasanlagen inzwischen große Flächen einnimmt, macht den Bestäubern das Leben schwer. Pestizide bedrohen ihre Existenz zusätzlich. Fallen die Bienen aus, bekommt der Ökokreislauf eine erhebliche Delle. Es gibt weniger Obst, die Vögel finden nichts zu essen und ziehen sich zurück. Die Folgen des Bienensterbens sind in der chinesischen Provinz Sichuan zu beobachten: Dort machen sich seit Anfang April Hunderte von Wanderarbeitern an die Arbeit, um die blühenden Obstbäume künstlich und per Hand zu bestäuben.

Acht Gewerbeareale mit 4300 Unternehmen

Acht Gewerbegebiete sind der wirtschaftliche Motor Norderstedts. Sechs sind in den 50er- und 60er-Jahren entstanden: Stonsdorf, Friedrichsgabe, Kohfurth, Nettelkrögen, Glashütte und Harkshörn – dieses Areal entlang der Oststraße ist mit 123 Hektar auch das größte Norderstedter Gewerbegebiet.

In unmittelbarer Nähe zum Hamburger Flughafen liegt der „Nordport“, zusammen mit dem Frederikspark ganz im Norden das jüngste Gewerbegebiet und ein Top-Standort. Insgesamt gibt es 4300 Unternehmen in der Stadt, in denen rund 35.000 Beschäftigte arbeiten.

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Jelena Jurth will einem derart trostlosen Szenario entgegenwirken und Bienen am Rathaus ansiedeln. Neben dem Untergeschoss der Rathausbücherei gibt es einen kleinen, idyllischen Lesegarten unter freiem Himmel, der allerdings momentan nicht genutzt wird. Da möchte sie Bienenstöcke und ein Insektenhotel aufstellen, den Blick in Zeitungen und Bücher kombinieren mit einem Blick durch Plexiglas in das Leben der so wertvollen Flieger.

Längerfristig angelegt ist ein größeres Projekt. Jelena Jurth möchte die Gewerbegebiete zum Blühen bringen. „Das ist auch ein ausdrücklicher Wunsch der Norderstedter“, sagt die Umweltwissenschaftlerin, die ihre Masterarbeit in und über Norderstedt geschrieben hat. 200 Bürger hat sie befragt, sie sollten sagen, wie viel Wertschätzung sie jedem der zehn von ihr benannten Projekte beimessen. Und da landeten die blühenden Gewerbegebiete auf Platz zwei. Fast alle Areale in der Stadt sind 50 Jahre und älter und brauchen eine Vitalkur
(s. Info-Kasten).

Die Flächen zu modernisieren, haben sich die städtische Entwicklungsgesellschaft und die Verwaltung ohnehin vorgenommen. Da passt es, die von Beton, Asphalt und Steinen geprägten Bereiche durch biologische Farbtupfer aufzulockern. „Wer auf Grün guckt oder die Mittagspause in grüner Umgebung verbringt, füllt die Lunge mit frischer Luft, arbeitet erholter und zufriedener, Aggressionen werden abgebaut“, sagt die Koordinatorin und verweist auf entsprechende Studien.

Spitzenreiter unter den Wertschätzungs-Vorschlägen war die „essbare Stadt“. Dahinter verbirgt sich die Idee, über das Stadtgebiet verteilt Gemüseinseln anzulegen. Die müssten von Bürgern gepflegt werden, jeder soll sich bedienen und eine knackige Karotte oder leckere Beeren genießen können. „Das bietet auch die Chance, alte Sorten wie Mangold wieder ins Bewusstsein zu rücken. Denn das Wissen geht zunehmend verloren“, sagt Jelena Jurth. So wüssten die wenigsten, dass es 2000 Apfelsorten in Deutschland gibt. In den Supermarktregalen liege eine höchst überschaubare Sortenzahl und kaum alte Sorten. Der Holsteiner Cox habe überlebt, aber es gebe viele andere, die sich zum Backen, zum Essen oder zum Herstellen von Saft eigneten.

Darüber will die Jelena Jurth informieren, immer wieder für den Erhalt der biologischen Vielfalt sensibilisieren und werben, Aufmerksamkeit herstellen. Marketing sieht die Fachfrau als wichtiges Aufgabengebiet, dem sie fünf Wertschätzungs-Projekte gewidmet hat: Fassadenbemalung, Moosaufschriften, Projektionen, Straßenkunst und die Visualisierung. Die Stadt könnte beispielsweise die Schulfassaden mit Motiven aus Flora und Fauna gestalten, einen überdimensionalen Vogel aufmalen.

Gut angekommen ist bei den Norderstedtern auch der Naturlehrpfad. Da gebe es mit den Themenrundwegen schon eine gute Grundlage, die durch ihren Schwerpunkt ergänzt werden könne. Viele Befragte hätte sich auch dafür ausgesprochen, Nistmöglichkeiten zu schaffen. Da denkt die Expertin weniger an die klassischen Vogelhäuschen, die ja schon in vielen Gärten stehen. Wird neu gebaut oder saniert, sollten die Bauherren auch an Fledermaussteine denken oder den Dachüberstand großzügig gestalten, um den Schwalben den Nestbau zu ermöglichen.

Auch im eigenen Haus will Jelena Jurth aktiv werden und mit dem Betriebsamt darüber sprechen, dass die städtischen Grünflächen weniger intensiv gemäht werden. „Dadurch können sich auf den Flächen auch unterschiedlich blühende Pflanzen und Gräser durchsetzen, die sonst kaum eine Chance haben“, sagt die Umweltwissenschaftlerin.