Norderstedt . Hartz IV, Schulden, obdachlos: Eine bezahlbare Wohnung in Norderstedt zu finden, wird für viele Menschen immer schwieriger.

Mehr als 100 Menschen sind in Norderstedt offiziell obdachlos gemeldet, der höchste Wert seit Jahren. Noch höher ist die Zahl derjenigen, die in sogenannten prekären Situationen wohnen, etwa in einem Zelt oder einer Gartenlaube. Wie zum Beispiel Claudia Fallersleben (Name geändert). Sie ist 40 Jahre alt und alleinerziehende Mutter von drei Töchtern im Alter von 8, 13 und 15 Jahren.

Aufgewachsen ist Claudia Fallersleben in Hamburg. Als ihre Beziehung zu einem drogensüchtigen Mann scheiterte, zog sie nach Wuppertal, kehrte dann aber wieder in den Norden zurück. „Als ich hierher kam, wusste ich nicht, dass die Wohnsituation so eine Katastrophe ist.“ Nach langem Suchen kommt sie im Sommer 2016 in einer Dreizimmer-Wohnung in Norderstedt unter. Doch es ist alles andere als ein Happy End.

„In Norderstedt stehen weniger als ein Prozent der Wohnungen leer, da kann von einem Marktversagen gesprochen werden“, sagt Miro Berbig, Fraktionschef der Linken, der sich auf das Thema sozialer Wohnungsbau spezialisiert hat. 2015 lagen die durchschnittlichen Mietpreise in Norderstedt bei 7,65 Euro pro Quadratmeter, aber auch nur, wenn Genossenschaftswohnungen mit eingerechnet werden, sagt Berbig. Mittlerweile wurde die Neun-Euro-Marke überschritten.

Claudia Fallerslebens Dreizimmer-Wohnung stellt sich als Mogelpackung heraus. Ein Zimmer dient als Abstellkammer für den Vermieter, das zweite Zimmer teilt sich ihre achtjährige Tochter mit dem erwachsenen Sohn des Vermieters. Da Fallersleben vormittags als Haushaltshilfe arbeitet und nachmittags nicht immer zu Hause ist, sind ihre Kinder häufig mit einem fremden Mann allein. „Meine Kinder fühlen sich da einfach nicht wohl“, sagt die 40-Jährige. Faktisch bleibt der Familie nur ein Zimmer mit einem 1,40 mal einem Meter großen Bett, das sich Fallersleben mit ihren zwei älteren Töchtern teilt. „Es frustriert mich so sehr, dass ich keine eigenen vier Wände habe.“ Deshalb steigt die Familie beinahe jeden Abend in die Bahn und fährt eineinhalb Stunden, um in der Gartenlaube einer Freundin zu übernachten. Dort lebe es sich besser als in ihrer 650-Euro-Mietwohnung. Dafür nimmt es die dreifache Mutter auch in Kauf, ihre Kinder jeden Morgen um 2.30 Uhr zu wecken, damit sie rechtzeitig in der Schule ankommen.

Eine Postanschrift ist bei der Wohnungssuche wichtig

Es ist schwer zu verstehen, wieso Fallersleben überhaupt ihre Wohnung behält. Doch wer so viele Absagen bei der Wohnungssuche bekommt, klammert sich wohl an jeden Strohhalm. Außerdem ist eine Postanschrift fast schon Bedingung, um bei der Wohnungssuche nicht gleich ausgesiebt zu werden und um einen Schulplatz zu bekommen. Doch auch die Anschrift ist nicht sicher. Ihr Mietvertrag läuft noch bis zum 31. Juli – dem Geburtstag ihrer jüngsten Tochter. Ein zehntes Lebensjahr, das mit erneuter Obdachlosigkeit beginnen könnte. „Ich bereue es manchmal, dass ich aus Wuppertal weg bin, aber was soll ich machen? Hier habe ich meine Freunde.“

Bis August vergangenen Jahres war Fallersleben in Privatinsolvenz, ein Schufa-Eintrag ist geblieben. „Wenn ich bei der Wohnungssuche erzähle, dass ich alleinerziehende Mutter bin, bekomme ich immer die gleiche Antwort zu hören: ,Nein, das will unser Vermieter nicht.’“ Claudia Fallersleben hat ihre Ansprüche auf ein Minimum heruntergeschraubt. Sogar eine Wohnung mit Schimmel würde sie nehmen – obwohl sich ihre Kinder in Wuppertal bereits eine Pilzinfektion geholt haben. Mit Hartz IV, Schufa-Eintrag und ohne festen Wohnsitz bleiben die Möglichkeiten gering.

Anette Reinders, Norderstedts Sozialdezernentin, kennt die Situation in der Stadt: „Wir haben gemeinsam mit der Diakonie das Projekt ,Arbeiten und Wohnen’ angeschoben. Und wir haben bisher ganz gute Ergebnisse erzielt, wenn es darum geht, Arbeit zu vermitteln. Die Menschen dann in Wohnungen zu bringen, ist ein viel größeres Problem. Wir brauchen einfach mehr Wohnungen. Nicht nur bezahlbaren, sondern überhaupt Wohnraum.“

Linken-Politiker Berbig sieht in einer kommunalen Wohnungsbaugesellschaft einen ersten wichtigen Schritt. „Dann haben wir die Möglichkeit, mit Steuergeld einzugreifen und können den privaten Baufirmen das Geschäft wegnehmen, damit sie sich mit uns an einen Tisch setzen müssen.“

Bis sich am Wohnungsmarkt in Norderstedt etwas ändert, bleibt die Situation schwierig. Das weiß auch Heike Weßel. Die 54-Jährige ist gelernte Altersbegleiterin und wohnt seit drei Monaten in der Notunterkunft am Langenharmer Weg in Norderstedt. Sie unterschreibt jetzt einen Ein-Jahres-Vertrag für eine Unterkunft, die eigentlich nur als Übergangslösung gedacht ist. Trotzdem ist sie froh, dass sie in Norderstedt ein Dach über dem Kopf hat. „In Hamburg hätte ich kein Einzelzimmer bekommen.“ Weßel hatte Glück und ist in dem sanierten Teil der Notunterkunft untergekommen. In einem Zimmer mit Herdplatten, Waschbecken und einem „Knastbett“ in der Ecke.

Heike Weßel befindet sich seit ihrer Scheidung in einer Situation, „in die man schneller kommt, als man denkt“, wie sie sagt. Ein „Miethai“ wollte ihr eine möblierte 15-Quadratmeter-Wohnung zum Mietpreis von 750 Euro andrehen. Bei einer anderen Wohnungsbesichtigung schien zunächst alles gut zu laufen, bis sie das Schlafzimmer gezeigt bekam. Der fremde Vermieter wollte sein Doppelbett mit ihr teilen und kündigte an, dass er nachts auch mal unter ihre Bettdecke greifen werde. Dass Maklern Geld zugesteckt wird, hat sie auch schon erlebt. „Bei Besichtigungen stehen teilweise 200 Menschen vor der Tür. Wenn dann nur einer den Makler besticht, bekomme ich die Wohnung schon einmal nicht“, empört sich Weßel. Und selbst wenn kein Makler dabei ist und Heike Weßel zeigen kann, dass sie ein ganz normaler Mensch ist und keine heruntergekommene Obdachlose, blocken die allermeisten Vermieter ab. „Ich komme aus diesem Kreislauf nicht mehr raus, so wie jeder andere, der auf Hartz IV angewiesen ist“, sagt die 54-Jährige.

Ein Problem, das nicht an der Stadtgrenze Norderstedts haltmacht. „Auch in Henstedt-Ulzburg brauchen sie keine günstigen Mieten zu erwarten, da müssen sie schon nördlich vom Nordostsee-Kanal suchen. Dabei ist es die ureigenste Aufgabe einer Gemeinde, die Grundversorgung seiner Bürger zu sichern. Und dazu gehört nicht nur die Bereitstellung von Strom, Wasser und Internet, sondern auch von Wohnraum. Eine beheizte Wohnung sichert das nackte Überleben“, sagt Berbig.

Fast ausweglos ist die Lage, wenn Obdachlose überhaupt keine Hilfe annehmen wollen. Zu ihnen gehört Toni Montan, wie er sich selbst nennt. Er wohnt seit vier Jahren im Wald, in einem Zelt aus mehreren Planen. In einer Obdachlosenunterkunft zu übernachten, kommt für ihn nicht infrage. Seit es hier vor mehr als zehn Jahren einen Mordfall gab, hat er Angst, dass es ihn als nächsten trifft. „Die Leute, die dort wohnen, werden stigmatisiert, das ist schlimmer als im Wald zu wohnen“, sagt er.

„Wer nicht ganz blöd ist, der kann im Wald überleben“

Der 45-Jährige ist Frührentner, hat eine harte Drogenkarriere hinter sich und schläft jede Nacht im Zelt – zumindest an seinem jungen Gesicht ist das fast spurlos vorbeigegangen, und abgesehen von seinen langen Haaren und dem langen Bart macht er optisch einen durchaus normalen Eindruck.

„Wer nicht ganz blöd ist, kann im Wald überleben – auch im Winter“, sagt Toni Montan. Sein Essen erwärmt er auf einem selbst gebastelten Gasherd, seine Wäsche kocht er selber aus, weil das günstiger ist, als in einem Waschsalon. Eigentlich wollte er schon im vergangenen Jahr in den Osten gehen, weil dort die Mieten günstiger sind. Doch das hat dann doch nicht geklappt, und so wird Toni Montan weiter in Norderstedt zelten.