Norderstedt . Weiter Diskussion, ob Autofahrer ab 75 ein Sicherheitsrisiko sind. Das Abendblatt war mit einem 77-Jährigen unterwegs.

Kürzlich, es war dunkel vor der Tür in Garstedt, da passierte es. „Kann ich ja ruhig zugeben“, sagt Heinz Walter Schmatz (77). „Das Außenlicht an meinem Haus war ausgefallen, die Auffahrt schlecht beleuchtet.“ Der Senior lenkte seine C-Klasse von Mercedes-Benz mit 185 PS auf sein Grundstück und touchierte eine kleine Mauer. „Nur ein Kratzer, nicht schlimm. Sowas passiert jedem einmal – auch einem jungen Menschen!“

Senior Schmatz ist nicht gut zu Fuß, Die Arthrose zwingt ihn in die Klappmesserhaltung. Wenn er also wohin will, nimmt er das Auto. Der Benz ist seine Verbindung zur Welt da draußen, zu den Menschen in Norderstedt. Besonders jetzt, wo doch seine geliebte Frau gerade gestorben ist, er alleine mit dem Hund in dem viel zu groß gewordenen Einfamilienhaus lebt.

Soll er jetzt seinen Führerschein abgeben? Weil er über 75 Jahre alt und aus Sicht der Versicherungsindustrie ein Sicherheitsrisiko für den Straßenverkehr ist? Oder wegen eines kleinen Ratschers an einem Mäuerchen, mitten in der Nacht? „Ich kann mir ein Leben ohne das Auto gar nicht vorstellen“, sagt Schmatz. „Ich bin seit 1960 unfallfrei unterwegs. Ich kann gut sehen, habe eine neue Brille und fahre sowieso nicht mehr als 9000 Kilometer im Jahr – und immer dieselben Strecken.“

"Der Wagen bietet viel Sicherheit und macht vieles von alleine. Tempomat nutze ich immer!": Heinz Werner Schmatz am Steuer seines Mercedes © HA | Andreas Burgmayer

Würde man die 274 Menschen über 64 Jahre befragen, die 2016 im Kreis Segeberg einen Verkehrsunfall verursacht haben, bekäme man sicher ähnliche Antworten. Wie sehr deutsche Senioren mit der Beurteilung ihres Fahrvermögens daneben liegen, erkennen sie leider erst, wenn es zu spät ist.

Die Rechtslage sieht keine Fahreignungstest vor. Und der Deutsche Verkehrsgerichtstag, ein Gremium aus 2000 Juristen, Wissenschaftlern und Verkehrsexperten, das jährlich tagt, sprach sich gerade gegen die Forderung der Versicherer nach der Einführung von Tests aus. Dass Senioren ein zunehmendes Risiko im Verkehr darstellen, dafür gebe es Hinweise – aber keine Beweise.

Der Blick in die Verkehrsstatistik des Landes Schleswig-Holstein verrät, dass es 2015 insgesamt 4986 Unfälle mit Senioren gab. Bei 3131 der Unfälle waren die Senioren die Verursacher (62 Prozent). Das sind 15,6 Prozent aller Unfälle. Damit seien die Senioren gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil (638.716 Senioren ab 65 Jahren, 22,6 Prozent) leicht überrepräsentiert, so die schleswig-holsteinische Landespolizei.

2416 Verletzte und 28 Tote forderten die Unfälle, als Unfallbeteiligte wurden 1727 Senioren leicht und 409 schwer verletzt, 30 starben. Seit 2011 (2515 Unfälle) steigt die Zahl der Unfälle stetig an, ebenso nimmt die Zahl der Unfallfahrer in der Altersgruppe 75 und älter zu.

Die Hauptunfallursache ist die mangelnde Übersicht in komplexen Verkehrssituationen. Entsprechend kommt es in Vorfahrtssituationen und beim Abbiegen zu den meisten Unfällen mit Senioren (siehe Grafik unten).

„Mag ja alles sein“, sagt Heinz Walter Schmatz, „aber wir Alten bauen trotzdem nicht mehr Unfälle als die Jungen.“ Der Blick in die Statistik bestätigt das: Die 18- bis 25-Jährigen verursachten 3218 Unfälle in 2015 (16,1 Prozent des Unfallaufkommens), 282 davon ereigneten sich im Kreis Segeberg. Allerdings: Die Zahlen sind bei den Jungen seit 2011 (3640) zurückgegangen.

Die C-Klasse ist Status und ein Ausdruck der Unabhängigkeit

„Und noch etwas“, sagt Heinz Walter Schmatz, „wir Alten fahren die besseren, weil neueren und sicheren Autos.“ Sein Mercedes unterstütze ihn bei der Fahrt mit diversen Assistenzsystemen, etwa leuchtet es Rot, wenn der Abstand zum Vordermann zu gering ist. „Und ich fahre immer mit Tempomat, ganz stur nach Geschwindigkeitsbegrenzung. Auf der Niendorfer Straße werde ich mit Tempo 50 regelmäßig überholt. Ist mir egal.“ Dazu seine Erfahrung am Steuer, die er als Versicherungskaufmann in Hunderttausenden von Kilometern auf deutschen Straßen über 56 Jahre am Steuer erworben hat. „Eine Fahrtauglichkeitsprüfung beim Arzt? Habe ich noch nie gemacht. Die regelmäßigen Checks – ja. Bei mir ist schon alles in Ordnung“, sagt Schmatz.

Der 77-Jährige ist aktiv beim Seniorenbeirat. Der hat jetzt gerade einen Prüfauftrag im Verkehrsausschuss einstimmig durchbekommen. Die Stadt soll mal durchrechnen, was es kostet, wenn man den Auto fahrenden Senioren der Stadt eine kostenlose Jahreskarte vom HVV für den Großraum Hamburg anbietet – wenn sie dafür ihren Führerschein freiwillig abgeben. Wer auch nur einen Hauch von Zweifel an seiner Fahrtauglichkeit hat, soll so motiviert werden, den Schritt zu gehen. „Mit Bussen und Bahnen? Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, wie das von meiner Adresse aus geht“, sagt Schmatz. Sein Mercedes ist mehr als Mittel zum Zweck, von A nach B zu kommen. Er ist Status und ein Ausdruck der Unabhängigkeit.

Seit 57 Jahren unfallfrei auf den Straßen Deutschlands unterwegs: Der Führerschein von Heinz Walter Schmatz
Seit 57 Jahren unfallfrei auf den Straßen Deutschlands unterwegs: Der Führerschein von Heinz Walter Schmatz © HA | Andreas Burgmayer

In Bad Segeberg versucht es die Stadt seit 2011, die Senioren mit einer HVV-Gratiskarte vom Auto in den Bus zu bekommen. Im Auftaktjahr kamen immerhin 48 Senioren in der Polizeidirektion an der Dorfstraße vorbei, um ihren Führerschein abzugeben. Vier Jahre später waren es noch zwölf, aber 2016 wieder 28 Senioren. „Maximal 30 können jedes Jahr mitmachen. Die Aktion ist erfolgreich und wird gut angenommen“, sagt Anna Maywald von der Polizeidirektion Bad Segeberg. „Jeder abgegebene Führerschein ist gut für die Verkehrssicherheit.“

Wer Heinz Walter Schmatz gehen sieht, mag sich kaum vorstellen, wie der Mann die vielleicht 300 Meter bis zur nächsten Bushaltestelle zu Fuß kommen soll. Hinter dem Steuer seines Mercedes, in den gemütlichen Autositzen, da fühlt sich Schmatz wohl, die Arthrose kann ihm nichts anhaben.

„Ich habe immer meine Touren: Zum Einkaufen an die Stettiner Straße, zu meinen Ärzten in Quickborn und Henstedt-Rhen, zum Seniorenbeirat ins Rathaus“, sagt Schmatz. Und natürlich die Wege zu seinen beiden Söhnen und ihren Familien, der eine in Lemsahl, der andere in Hummelsbüttel. „Ich pass’ schon auf. Und wenn ich merke, dass das mit dem Autofahren keine so gute Idee mehr ist, dann gebe ich den Führerschein auch ab. Aber momentan geht es noch sehr gut.“

Nur im Dunkeln, da fährt Schmatz jetzt kaum noch. Wegen des schlechten Lichts, der mangelnden Übersicht und der tückischen Mäuerchen. Aber das sei ja auch bei vielen jungen Leuten nicht anders, sagt Schmatz.