Henstedt-Ulzburg. Der 83-jährige, fast blinde Jazzmusiker hat eine neue CD rausgebracht. Er ist einer der wichtigsten Vibrafonisten seiner Generation.

Wolfgang Schlüter sitzt am liebsten in einem Relax-Sessel direkt am Panoramafenster seines Hauses an der Hermann-Löns-Straße in Henstedt-Rhen und schaut in den Garten. Aber den Gartenteich, die vielen Büsche und Bäume kann er nur noch schemenhaft erkennen: Seit einem Augeninfarkt sieht er nur noch wenig, eigentlich fast nichts. Trotzdem ist der Lebenswille ungebrochen: Zu seinem 83. Geburtstag überrascht der große alte Musiker die Jazzgemeinde mit einem neuen Album: „Breathing as one“ ist eine intime Duo-CD, die Vibrafonist Wolfgang Schlüter mit seinem kongenialen Partner, dem Pianisten Boris Netsvetaev, eingespielt hat.

Seit Jahrzehnten sitzt Wolfgang Schlüter weltweit in der erste Reihe: Musiker aus der Generation des Aufbruchs aus der Swing-Ära gibt es heute nur noch wenige. Aber ausgerechnet in Henstedt-Ulzburg lebt einer, der Musikgeschichte geschrieben hat und bis heute Vibrafonisten in aller Welt beeinflusst. Bernd Skibbe, der Hamburger Produzent der aktuellen Schlüter/Netsvetaev-CD, beschreibt die Atmosphäre während der Aufnahmen im Studio als „magisch“. Tatsächlich hatten die beiden Musiker während der Aufnahmen ein Stadium der Gelöstheit erreicht, das Aufnahmen möglich macht, die der Seele gut tun.

Für Wolfgang Schlüter ist es wichtig, beim Spielen diese Glücksmomente zu erwischen. Weil er fast blind ist, muss er sich beim Spielen gehen lassen und darf sich nicht auf technische Einzelheiten konzentrieren. „Wenn ich versuche, mein Spielen zu kontrollieren, geht es schief“, sagt der Jazzmusiker, der einst eine klassische Ausbildung als Pauker und Schlagzeuger absolviert hat. „Wenn ich es aber einfach laufen lasse, dann geht es wunderbar.“ Es sind dann diese magischen Momente, die ihn immer noch zu großen Leistungen beflügeln, die die Zuhörer bei Konzerten in den Bann seiner Musik ziehen. „Das ist dann ein ganz beglückendes und ungeheuer schönes Gefühl, es macht regelrecht süchtig“, betont der Henstedt-Ulzburger.

Mit Beginn seiner Augenkrankheit, die ihn vor einigen Jahren von einer Minute auf die andere befallen hat, musste Wolfgang Schlüter umdenken: Er begann, gefühlvoller zu spielen, musste sich noch mehr konzentrieren – und noch mehr üben, um sein Handicap zu kompensieren. Täglich geht er in den Keller, wo im Musikraum sein Vibrafon steht, um ein bis zwei Stunden zu üben. Das ist kein Zwang für ihn. Er empfindet die Musik immer noch als eine Bereicherung seines Lebens. Sie hat ihm auch geholfen, den tragischen Unfalltod seiner Frau vor neun Jahren zu überwinden.

Wolfgang Schlüter  Ende der 50er-Jahre in
Wolfgang Schlüter Ende der 50er-Jahre in © NAURA Christina | NAURA Christina

Eigentlich könnte sich Wolfgang Schlüter tatsächlich zurücklehnen und ein beschauliches Rentnerleben führen. Nach 30 Jahren Festanstellung bei der NDR Bigband, als mit Preisen überhäufter Musiker, der im Laufe seines Musikerlebens mehrere Hundert Kompositionen geschrieben hat, müsste er eigentlich keine Konzerte mehr geben oder neues CDs einspielen. Der Jazz-Echo, mit dem er vor drei Jahren für seine CD „Visionen“ mit der NDR Bigband medienwirksam ausgezeichnet wurde, steht im Wohnzimmer auf einer Kommode, irgendwo im Haus gibt es den Beweis, dass er 2001 den mit 20.000 Mark ausgestatteten Deutschen Jazzpreis bekommen hat, an der Haustür erinnert der Zusatz „Prof.“ vor dem Namen an seine langjährige Hochschultätigkeit – was also treibt Wolfgang Schlüter an? „Seit meinem zwölften Lebensjahr war mir klar, dass ich die musikalische Laufbahn einschlagen wollte“, sagt er. „Damals begann es in mir zu brennen, und es brennt heute noch.“ Die Laufbahn als klassischer Solopaukist musste er wegen einer Knieverletzung, die zu einer Versteifung des Beines führte, aufgeben – ein Glücksfall für die deutsche und europäische Jazzszene, wie sich später herausgestellt hat.

Pianist Boris Netsvetaev ist Mitglied des Wolfgang Schlüter Quartetts, das in schöner Regelmäßigkeit Konzerte gibt. In dieser Formation wurde die enge musikalische Verbundenheit der beiden gelegt, die auf der Duo-CD „Breathing as one“ sehr schön zum Ausdruck kommt. Am Klavier hat Wolfgang Schlüter die Grundlagen für elf, zum Teil sehr persönliche Kompositionen gelegt, von denen einige bestimmte Lebenssituationen beschreiben. „Blues for Michael“, „Julchens Dilemma“, „Tekla“ oder auch „I remember Karin“ sind Personen gewidmet, die in seinem Leben Rollen spielten oder immer noch spielen. Mit „Michael“ ist natürlich der langjährige musikalische Partner und enge Freund Michael Naura gemeint, der heute schwer erkrankt in einem Heim lebt und seinen einstigen Wegbegleiter kaum noch erkennt. Das Michael Naura Quintett erlebte höchste Jazzweihen und gehörte lange zu den Spitzenformationen in Europa. Beide, Schlüter und Pianist Naura, landeten später beim NDR, wobei Freund Michael als extrovertierter Jazzredakteur im Hintergrund viele Fäden zog und Weichen für die Jazzgemeinde stellte.

Wer kein Gespür für Jazzmusik hat, sollte sich die CD vielleicht trotzdem mal anhören: Bei „Summertime in Rhen“ einfach die Augen schließen und die Sonne in Gedanken scheinen lassen – körperliche und seelische Entspannung ist garantiert.

In der Fachpresse wurde das Schlüter/Netsvetaev-Album bereits gebührend gewürdigt („… wie ein schöner Traum, von dem man sich wünscht, dass er nie vorübergehen würde.“), aber als gestandene Musiker stellen sie es auch persönlich vor: Am 11. Dezember im Sendesaal von Radio Bremen, am 17. Dezember im Hamburger Club Birdland, am 18. Dezember im A-Trane in Berlin, am 15. Januar im Kölner Pfandhaus. Der NDR hat ebenfalls ein Konzert in Aussicht gestellt, einen Termin gibt es aber noch nicht.

„Breathing as one“, Wolfgang Schlüter/Boris Netsvetaev, Skip Records GmbH, SKP 9133-2, C 104482.