Norderstedt . Kreis erwartet 200 unbegleitete Flüchtlinge pro Jahr. Die Situation sprenge jeden Rahmen, sagt Kreisjugendamtsleiter Manfred Stankat.
Sie stammen aus Eritrea, aus dem Irak, Syrien oder Afghanistan. Sie sind zwischen 14 und 17 Jahren alt und zu 90 Prozent junge Männer. Auf der Flucht vor Krieg und Verfolgung und den Häschern der radikalen Kämpfer in ihrer Heimat haben sie ihre Familie verloren. Oder sie wurden von ihren Verwandten losgeschickt – mit allem Geld der Familie und guten Wünschen.
„umF“ heißen diese Jung-Männer im deutschen Behörden-Sprech. Das Kürzel für unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge. 170 von ihnen leben derzeit allein in der Erstaufnahmeeinrichtung in Boostedt, geschätzte 10.000 sind es in Deutschland. „Und es werden stetig mehr“, sagt Manfred Stankat, Leiter des Kreisjugendamtes in Bad Segeberg. „Wie wir die Betreuung dieser Jugendlichen bewältigen, ist eine der herausragendsten Frage in der derzeitigen Flüchtlingsdebatte.“
Die Entwicklung sprenge jeden Rahmen, sagt Stankat. Segeberg ist laut Sozialgesetzbuch „Belegenheitsstandort“. Das heißt: Ein Ort, an dem minderjährige Flüchtlinge ohne Angehörige das erste Mal registriert werden und dessen Jugendamt damit für die Betreuung zuständig ist. Boostedt liegt in der Verantwortung von Stankats Behörde. Er rechnet jährlich mit mindestens 200 minderjährigen Flüchtlingen ohne Begleitung, also im Minimum mit 600 Jugendlichen bis 2019. Stankat: „Die Fallzahlen steigern sich für uns damit um 50 Prozent. Vier Mitarbeiter im Allgemeinen Sozialen Dienst kümmern sich derzeit um 170 junge Flüchtlinge. Es ist klar, dass wir demnächst den Personalschlüssel deutlich erhöhen müssen.“
Die Betreuung für minderjährige Flüchtlinge ist umfassend. Die Jugendlichen müssen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe untergebracht werden. Sie müssen einen persönlichen Vormund bekommen und den sofortigen Zugang zu Ausbildung und Schule. Viele brauchen psychologische oder erzieherische Hilfe. Manche sind schwer traumatisiert.
Die Betreuung ist ein Kraftakt, der nur im engen Schulterschluss zwischen allen Behörden und Kommunen des Kreises Segeberg gestemmt werden kann. Norderstedt zum Beispiel war lange davon ausgegangen, dass es keine „umF“ wird aufnehmen müssen. Nun gerät die Stadt durch die neue Lage mit der Erstaufnahme in Boostedt in Zugzwang. Das Norderstedter Jugendamt rechnet schon bis Frühjahr 2016 mit der Zuweisung von etwa 50 alleinstehenden Flüchtlingen im Jugendalter.
Für Sozialdezernentin Anette Reinders eine weitere Herausforderung in einer insgesamt angespannten Flüchtlings-Lage. „Statt erwarteten 620 Flüchtlingen insgesamt werden wir dieses Jahr 840 Menschen in Norderstedt unterbringen müssen. Und wenn die Prognosen für 2016 zutreffen, kommen dann weitere 1300 in Norderstedt dazu.“
Und nun zusätzlich 50 unbegleitete Minderjährige. Reinders will sie im ehemaligen Frauenhaus in Harksheide unterbringen, das von Dezember an leer steht. Außerdem ist der Umbau einer Jugendeinrichtung für den Bezug durch die jungen Flüchtlinge geplant. Auch Wohngruppen mit ambulanter Betreuung kommen infrage.
Was die Kosten angeht, so muss Norderstedt in den kommenden zwei Jahren für den Umbau der Unterkünfte etwa 1,2 Millionen Euro aufbringen, bei jährlichen Unterhaltungskosten von 150.000 Euro. Für die Vollzeitpflege, Heimerziehung, intensive Einzelbetreuung und Inobhutnahme von Minderjährigen sind jährlich über 2,4 Millionen Euro nötig. 1,6 Millionen davon erstattet der Bund. Das Problem für die Kreise und Kommunen: Laut Manfred Stankat klaffe derzeit ein „Erstattungsloch“. Sechs bis zwölf Monate dauere es, bis der Bund zahle. So lange müsse man in Vorleistung treten. Bei der Unterbringung und Betreuung haben die Träger-Unternehmen der Jugendhilfe, mit denen die Stadt schon lange zusammenarbeitet, die kurzfristige und dauerhafte Unterstützung zugesagt. „Für die Vormundschaften suchen wir auch Privatleute, die vom Jugendamt geschult und begleitet werden“, sagt Reinders. Zudem plane der Kinderschutzbund die Einrichtung von Vormundschaften.
„Manche minderjährigen Flüchtlinge kommen mit dem großen Bruder, dem Onkel oder Opa“, sagt Manfred Stankat. Formal müsste das Jugendamt für den Minderjährgen trotzdem einen Vormund suchen, weil die Verwandten weder Deutsch sprechen, noch sich mit den Gegebenheiten in Deutschland auskennen. „Doch wir reißen diese Familienverbände deswegen nicht auseinander“, sagt Stankat. Auch der Kreis setze bei den Vormundschaften auf die Hilfe von Bürgern und will das Modell demnächst bewerben.
Die Sozialstruktur der minderjährigen Flüchtlinge sei heterogen. „Man kann sie nicht über einen Kamm schweren. Aber in der Mehrheit sind das Jugendliche mit Manieren, aus Familienverbänden, mit Bildung und Englischkenntnissen, von der Familie geschickt, um der Gewalt und Zwangsrekrutierung zu entgehen.“ Nur wenige seien verhaltensauffällig. „Aber es gibt schlimme Fälle von stark traumatisierten Jugendlichen. Wir hatten Fälle, die kippten in der Befragung vom Stuhl, als sie von ihren grausamen Erlebnissen erzählen mussten“, sagt Stankat.