Norderstedt. „The New Love Generation“ zu Gast in Norderstedt – das Hamburger Abendblatt hat die Musik-Familie vor ihrem Auftritt begleitet.
Treffen sich zehn alte Freunde. Einige haben mehr Jahrzehnte auf dem Buckel, als sich an einer Hand abzählen lassen, andere sind ein paar Tage jünger. Man kennt sich schon ewig. Und teilt, unter anderem, die Erinnerung an eine Jugendzeit, die von Love & Peace, Flower-Power und dem sicheren Gefühl befeuert wurde, man würde die Welt verändern. Damals. Die Freunde seufzen in seliger Erinnerung, legen ein paar von den alten Platten auf und verabschieden sich zeitig, weil sich die Welt leider doch nicht verändert hat und man von der Erinnerung bloß einen Tristesse-Kater kriegt. So läuft ein derartiges Treffen ab, vermutlich.
Norderstedt, Kulturwerk am See, Dienstagnachmittag, 16 Uhr. Treffen sich zehn alte Freunde. Allesamt Profimusiker, deren Alltag es ist, mit Stars zusammenzuarbeiten – im Backgroundchor, in der Band, als Produzent. Fünf von ihnen waren gerade für eine Helene-Fischer-Produktion gebucht. Hier und heute läuft ihr eigenes Ding: „The New Love Generation“, eine Musikrevue auf der Basis einschlägiger Songs von „San Francisco“ bis „California Dreamin‘“.
Ein Plausch vor dem Soundcheck beruhigt
Nacheinander trudeln die Akteure ein. Sängerin Marion Welch mit dem kürzesten Anfahrtsweg: Sie lebt seit zehn Jahren in Norderstedt. Zwischendurch tourt sie mit Showgrößen wie Milva, Howard Carpendale oder Stefan Gwildis und arbeitet bei TV-Formaten wie „Let’s Dance“ – Marion Welch singt nicht bloß, sie ist auch ausgebildete Tanzpädagogin. Heute ist sie ein bisschen nervös. Heimspiel, nachher sitzen Familie, Freunde und Nachbarn im Publikum, das lässt auch einen Profi nicht kalt. Da hilft noch ein kleiner Plausch vor dem Soundcheck mit den drei Sangeskolleginnen. Und wie sie da so stehen, ein ansehnliches Damenquartett mittleren Alters, könnte es sein, sie tauschten Kochrezepte aus. Bis sie plötzlich ihre Stimmen antesten und sich in Koloraturakrobatik überbieten. Madeleine Lang stand schon mit Acts wie den Scorpions oder Peter Maffay auf der Bühne, hier keckert sie wie ein Delfin, als entstiege Flipper persönlich den Fluten. Vokalartisten unter sich.
Billy steht schon auf der Rampe und kümmert sich um ein lose verlegtes Kabel. Gekonnt beißt er einen Klebestreifen von der Rolle und entschärft damit die Stolperfalle. Billy heißt eigentlich William King und trägt über untersetzter Figur ein breites Lächeln im runden Gesicht. Träfe man ihn im Baumarkt, würde man sich bei ihm vertrauensvoll nach den Achter-Dübeln erkundigen. Auf die Idee, einem Mann gegenüber zu stehen, der bereits mit 48 Gold- und Platin-Schallplatten ausgezeichnet wurde, käme man nicht zwingend. Es sei denn, man trifft ihn beim Soundcheck, wie jetzt. Das Kabel sitzt, Billy greift zur Rickenbacker-Gitarre und singt mit einer Stimme, die ölt und reibt, schmeichelt und schmirgelt. Der Mann am Bass steigt ein, die komplette Band folgt, das Damenquartett findet sich auf Anhieb. Noch ein paar Wünsche an den Mann am Mischpult, der geduldig an den Reglern zieht. Dann geht es in die Katakomben des Kulturwerks – essen, umziehen, Showtime.
Keine Band – Eine Musik-Familie
„The New Love Generation“ ist das ambitionierte Projekt einer Gruppe Musiker, die sich eher als Musik-Familie verstehen. Ganz im Geiste der „Love & Peace“-Gemeinde also. Gemeinsam haben sie in unzähligen Studios gearbeitet, auf Bühnen gestanden oder in Tourbussen abgehangen. Ist bei derart geballter Kompetenz ein Auftritt wie in Norderstedt bloße Routine? „Ich habe jedesmal Lampenfieber“, gesteht AnYa Mahnken – und das trotz ihrer Routine als Live-Sängerin. Anja Bublitz, die als Sängerin ebenfalls jede Menge Bühnenerfahrung aufweist und in diversen Musicals mitwirkte, erzählt sogar: „Vor Generalproben ist es besonders schlimm, da könnte ich glatt weglaufen.“ Tut sie zum Glück nicht. Sie ist ja auch nicht allein mit dieser Angst. Unter den hier versammelten Profis ist keiner, der frei von Lampenfieber wäre, egal, ob der Auftritt im Kulturwerk oder am Broadway stattfände. Sogar Billy, der Gold-und-Platin-Sammler, ist nicht frei davon. Aber er hat ein Rezept dagegen: Proben, proben, proben – bis alles sitzt. Sogar das letzte lose Kabel.
20 Uhr. Der Saal füllt sich. Einige Damen haben mutig ihre Hippie-Ausrüstung von anno Woodstock entmottet und glänzen mit Wallekleidern, Haarbändern und Klunkerketten in psychedelischen Farben. Das Kulturwerk summt vor Erwartung, viele kennen sich, über allem liegt ein Hauch von Klassentreffen. Ich gehe die Songliste durch. Wie soll das bloß gutgehen? Das kann doch nur so laufen: Jugenderinnerungen, die Songs von damals – man schwelgt sentimental, seufzt und erwacht mit einem Tristesse-Kater.
Dann beginnt die Show. Es haut mich um. Vom Fleck weg. „Let’s Go To San Francisco“, „The Letter” oder „Love The One You’re With” – alles schon tausendmal gehört. Aber so: noch nie. Die Akteure um die musikalischen Leader Richard Rossbach (Band) und „Billy” King (Gesang) blasen den Oldies den Staub aus sämtlichen Notenblättern und hüllen sie virtuos in mehrstimmige Gesangsarrangements. Gewürzt mit einem guten Schuss Les Humphries, vorgetragen mit einer Virtuosität und Energie, die einen umgehend aus der trägsten Umlaufbahn schleudert.
Jede Sängerin kommt bei der Show zum Zug
AnYa Mahnken tobt als Janis Joplin über die Bühne, jede Stimme aus dem Damenquartett übernimmt wechselseitig die Lufthoheit im Saal. Mit „Long Train Runnin‘“ von den Doobie Brothers schlägt die Stunde des Bassisten Lothar Atwell. Wenn Xavier Naidoo so lässig Bass spielen könnte wie Jerome Boateng Fußball: So ist Lothar. Soulstimme, Bass-Genie und tiefenentspannte Bühnenpräsenz. „Mama Told Me Not To Come“, einst von Randy Newmann für Eric Burdons erstes Soloalbum geschrieben, habe ich niemals so rotzig-trotzig gehört wie in dieser Revue, was vor allem am aufgekratzten Sound liegt, dem die Gitarristen Roman Rossbach und Fronk Stehle diesem Song aufbügeln. „Billy“ King singt Chicagos Engtanzfetenhit „If You Leave Me Now“ glockenhell wie ein Sängerknabe – allerdings ein Sängerknabe mit Erfahrung, das macht es noch besser. Als nach der dritten Zugabe („Al You Need Is Love“/Beatles) das Licht im Saal angeht, sind Janis Joplin und Jimi Hendrix immer noch tot und ist der „Summer Of Love“ längst Geschichte. Aber das ist nicht mehr so schlimm. Es gibt ja „The New Love Generation“. Garantiert ohne Tristesse-Kater.