Flüchtlingswellen gab es auch vor 70 Jahren. Millionen Menschen strömten in den Westen. Wir zeigen zwei Geschichten, die bewegen.

Rolf Stelly ist 79 Jahre alt. Er will mir den Ort zeigen, an dem sein Elternhaus stand. „Rönnhaidstraße Nummer 53, das war die Adresse“, sagt er. Den Straßennamen gibt es allerdings nicht mehr, heute heißt sie Adolph-Schönfelder-Straße.

Ich parke den Wagen in einer kleinen Querstraße. Dann gehen wir einige Schritte und biegen in die Straße der Erinnerungen ab. „Hier war alles platt, kein Haus stand mehr und kein Baum. Hier haben die Bomber im Jahr 1943 beim ,Unternehmen Gomorrha’ ganze Arbeit geleistet“, sagt er.

© Hans-Eckart Jaeger

Der Wohnblock, in dem Rolf Stelly mit seinen Eltern im dritten Stockwerk seine Kindheit verbrachte, ist nur noch Erinnerung. Aber die Hausnummer 53 gibt es noch. Verrostet und verwittert ist das Schild, und ein Gedanke kommt auf: Hat es damals vielleicht einer der Bewohner aus den Trümmern gefischt, um es für bessere Zeiten aufzubewahren?

Barmbek wurde nahezu zerstört

„Ich hatte eine schöne Kindheit“, sagt Rolf Stelly, „aber als die alliierten Bomber kamen, war es damit schlagartig vorbei.“ In der Nacht vom 29. auf 30. Juli 1943, beim 143. Luftangriff des Zweiten Weltkrieges auf Hamburg, luden insgesamt 726 alliierte Bomber von 23.58 Uhr bis 2.16 Uhr 2230 Sprengbomben und 325.000 Brandbomben ab. Barmbek, damals wurde der Stadtteil noch mit „ck“ geschrieben, wurde nahezu zerstört. Auch das Elternhaus von Rolf Stelly. „Mein Vater ist später noch einmal zurückgekehrt und hat einige Sachen retten können.“

Am schlimmsten traf es das Karstadt-Kaufhaus, nur wenige Hundert Meter von der Rönnhaidstraße entfernt. Um 1 Uhr fiel die erste, fünf Minuten später dann die zweite Sprengbombe. Das große Gebäude stürzte in sich zusammen, 370 Menschen wurden im Luftschutzraum unter den Trümmern begraben. Die Bewohner der Häuser an der Rönnhaidstraße retteten sich in die Bunker gegenüber der Straße.

Rolf Stelly drängt auf die Weiterfahrt. Seine Frau Renate möchte wissen, wie es heute im Schrebergarten „Klein Brummerkaten“ in Hamburg-Wilhelmsburg nahe des Veddeler S-Bahnhofes aussieht. Gibt es die Parzelle mit der Nummer 32 im Nelkenweg noch, wo einst die Kleingarten-Laube stand, in dem sie 19 Jahre ihres Lebens verbrachte?

Flucht vor der Sturmflut

Ihre Familie – der Großvater war Binnenschiffer von Beruf, der Vater Elektriker – hatte es dorthin verschlagen, als die alliierten Flieger ihre Wohnung im Stadtteil Rothenburgsort zerbombten. Renate war erst sechs Monate alt.

Sturmflut 1962: Feuerwehrleute retten erschöpfte Frauen und Männer. Renate Stelly war damals 19 Jahre alt
Sturmflut 1962: Feuerwehrleute retten erschöpfte Frauen und Männer. Renate Stelly war damals 19 Jahre alt © Klietz | Wolfgang Klietz

Jahre später, an einem Wintertag 1962, kam die Sturmflut, und wieder musste die Familie flüchten. Renate Stelly erinnert sich: „Es war die Nacht vom 16. auf den 17. Februar, ich kehrte von einem Opernbesuch zurück. Um 23.30 Uhr stieg ich am Bahnhof Veddel aus der S-Bahn. Von dort waren es bis zum Schrebergarten zehn Minuten zu Fuß. Kaum lag ich im Bett, da riefen die Nachbarn: ,Das Wasser kommt!’ Die Flut bahnte sich unter der Brücke hindurch einen Weg und kam immer näher. Wir konnten uns gerade noch auf den Bahndamm retten. Das Wasser stand uns bis zum Hals.“

Auch der Nelkenweg ist nur noch Vergangenheit, und die Parzelle 32 gibt es ebenfalls nicht mehr. Ein Schrebergärtner, der seit 30 Jahren auf dem Gelände zu Hause ist, klärt auf: „Die Sturmflut hat alles vernichtet, es wurde alles neu aufgebaut.“

© Hans-Eckart Jaeger

Die Odyssee dauerte ein Jahr. „Die ersten Nächte haben wir in der Michaeliskirche auf Matratzen und Stroh verbracht“, berichtet Renate Stelly. Später wohnte sie mit den Eltern und einem Neffen in einem Schleusenwärterhaus im Hafen. Dann wurde der Familie eine Wohnung in einem Hochhaus in Bramfeld zugewiesen.

Rolf Stelly und seine Mutter hatten 1944 bei Verwandten in der Ulzburger Straße in Harksheide eine Unterkunft gefunden. Der Vater war Soldat und wurde später in Kiew vermisst. Rolf ließ sich zum Schiffsmaschinenbauer ausbilden und fuhr seit 1950 zur See, meistens auf der Afrika-Linie. Auf der Hochzeitsfeier einer Freundin hat Renate im Jahr 1963 ihren Rolf kennen- und lieben gelernt. Zwei Jahre später haben sie geheiratet. „Nie wieder haben meine Füße Schiffsplanken betreten“, sagt Rolf Stelly. Anfang der 70er-Jahre hat er in Glashütte ein schmuckes Einzelhaus gebaut, in dem sie bis heute leben. Vor wenigen Wochen haben sie goldene Hochzeit gefeiert.