Kaltenkirchen. 70 Jahre nach Kriegsende besucht der ehemalige Häftling Paul Krattinger mit seinem Sohn und seiner Enkelin das KZ-Außenlager in Kaltenkirchen

Als Paul Krattinger zum ersten Mal nach Kaltenkirchen kam, war er 23 Jahre alt – ein junger und sehr kräftiger Käsemacher aus dem französischen Jura. Die SS hatte ihn bei einer Razzia verschleppt. „Seine Stärke hat ihm vermutlich das Leben gerettet“, sagt seine Enkelin Amandine, als sie mit ihrem Großvater über das Gelände der KZ-Gedenkstätte in Kaltenkirchen geht. Krattinger überlebte die unmenschlichen Arbeitsbedingungen und die Lagerhaft. 70 Jahre nach Kriegsende kehrte der 93-Jährige nach Kaltenkirchen zurück.

Schon mehrfach hat er diesen Ort besucht. Wie lange er dort war, kann Krattinger nicht mehr genau sagen. Im Spätsommer 1944 kam er vermutlich in Kaltenkirchen an. Nach sechs Monaten wurde er ins KZ Neuengamme deportiert, dann ins KZ Ravensbrück. Dort erlebte Krattinger die Befreiung. Am 30. April 1945 kam die Rote Armee.

Diesmal reiste er mit seiner Enkelin und Sohn Jean-Paul nach Kaltenkirchen an. Paul Krattinger gehört zu den drei letzten Häftlingen aus Kaltenkirchen, die noch am Leben sind. Trotz seiner Alters wirkt er immer noch kräftig und hellwach. „Er ist in einer guten Verfassung“, sagt Amandine Krattinger.

„Hier war die Latrine!“, ruft Paul Krattinger und zeigt auf die Reste des Fundaments. Mehr ist von dem Außenlager des Konzentrationslager nicht übrig geblieben. Der 93-Jährige geht an weißen Zäunen vorbei, die die Umrisse der einstigen Baracken markieren. Seine Häftlingsnummer kennt er immer noch auswendig: 40425.

Auf dem Gelände der Gedenkstätte treffen die drei Gäste aus Frankreich eine Gruppe der „Amicale Internationale de Neuengamme“, einer Vereinigung von ehemaligen Häftlingen und ihren Angehörigen, die 70 Jahre nach Kriegsende die Außenlager besucht. Krattinger bleibt mit den Ehefrauen einstiger Häftlinge an den kleinen Gedenksteinen stehen, die Schüler aus Kaltenkirchen und Polen gemeinsam auf dem Lagergelände angeordnet haben. Jeder der 230 Steine trägt den Namen eines Häftlings, dessen Tod im Kaltenkirchener Außenlager dokumentiert wurde. Insgesamt gehen Wissenschaftler von 500 bis 700 getöteten Lagerinsassen aus, doch die meisten Schicksale sind nicht mehr nachvollziehbar, weil die Dokumente fehlen. Noch immer werden unentdeckte Massengräber auf dem früheren KZ-Gelände vermutet.

Krattinger erinnert sich an einen Mithäftling aus Paris, dessen Name auf einem Stein steht. Anhand der Häftlingsnummer versucht er gemeinsam mit den Frauen zu ermitteln, wer außerdem während seiner Lagerzeit in Kaltenkirchen inhaftiert war, um einen Flugplatz der Luftwaffe auszubauen. Um die alten Menschen herum stehen Kinder, Enkel und Urenkel ehemaliger Häftlinge.

Der 93-Jährige hat Fotos aus dem KZ Ravensbrück mitgebracht. Sie stammen aus seinem privaten Archiv. Mitarbeiter des Trägervereins der KZ-Gedenkstätte wollen die Bilder einscannen und den Kollegen in Ravensbrück zur Verfügung stellen.

Paul Krattinger versucht, so viel Wissen über die Lager wie möglich zu verbreiten. In seiner Heimat besucht er regelmäßig Schulen und spricht über seine Haft. Seine Enkelin Amandine unterstützt den 93-Jährigen und hat den einstündigen Auftritt ihres Großvaters in einer Grundschule bei Youtube veröffentlicht.

„Wir wollen mehr über sein Leben wissen, doch es ist manchmal für uns schwer, ihn nach der Vergangenheit zu fragen“, sagt Amandine Krattinger. „Wir sind zurückhaltend, weil wir wissen, dass ihn die Erinnerung schmerzt.“

Krattingers Sohn Jean-Paul legt gemeinsam mit Catherine de Solere einen Kranz auf der Gedenkstätte nieder. Ihr Vater Edmond Mahieu hatte eine Résistance-Gruppe gegen die Wehrmacht gegründet, wurde in Kaltenkirchen inhaftiert und überlebte. Nach der Befreiung ging er zur Armee und brachte es bis zum General.

„Wir befinden uns an einem Ort der Erinnerung, der Mahnung und der Begegnung“, sagt der Vorsitzende des Trägervereins, Uwe Czerwonka, und erinnert an die Arbeit des Alveslohers Gerhard Hoch, ohne dessen hartnäckige Recherechen die Geschichte des Außenlagers möglicherweise nie erforscht und die Gedenkstätte nie entstanden wäre. 4000 Menschen besuchen pro Jahr den denkmalgeschützten Ort an der Bundesstraße 4.

Czerwonka kündigt die Eröffnung einer Ausstellung auf dem Gelände der Gedenkstätte an. Dort sollen die neuen wissenschaftlichen Erkenntnis zur Lagergeschichte vorgestellt werden. Zum Konzept gehören ein neues Gebäude für Ausstellungen und Besucher.

„Wichtig ist für uns die Begegnung mit jungen Menschen“, sagte Czerwonka und wies auf die vielen Besuche von Schülergruppen aus der Kaltenkirchen, Barmstedt und anderen Orten der Region hin. Czerwonka: „Die Schüler sollen erfahren, was hier passiert ist.“

Am heutigen Montag besucht Paul Krattinger mit seiner Familie die Gedenkstätte Neuengamme.