Norderstedt. Mehr als 150 Menschen, darunter auch Angehörige von Holocaust-Überlebenden, gingen den NS-Todesmarsch noch einmal. Start war in Hamburg-Fuhlsbüttel

Ruthy Sherman kommt aus Israel, aus Kfar Saba. Sie geht noch einmal die Strecke, die ihre Mutter Hilde Sherman am 15. April 1945 marschieren musste. Hilde Sherman war auf dem Todesmarsch und wurde mit 800 Menschen vom KZ Neuengamme und Fuhlsbüttel nach Kiel-Hassee, ins sogenannte Arbeitserziehungslager Nordmark getrieben.

Genau 70 Jahre später gingen mehr als 150 Menschen diese Todesstrecke noch einmal – als Marsch des Lebens. Sie erinnerten an den Terror der Nationalsozialisten und wollen dafür sorgen, dass das schwärzeste Kapitel Deutschlands nicht vergessen wird. Der Marsch des Lebens ist eine Mahnung, dass sich der rechte Terror und vor allem der Holocaust nie wiederholen dürfen.

Viele Menschen ließen im April 1945, nur wenige Tage vor der Kapitulation Hitler-Deutschlands, auf diesem Todesmarsch ihr Leben. Wer nicht mehr laufen konnte, wurde erschossen. Es waren Menschen, die für die NS-Diktatoren eine falsche Meinung, eine falsche politische Überzeugung hatten, die den Nazis nicht passten, weil sie kritisch dachten und handelten, oder weil sie Sinti, Roma oder Juden waren.

Hilde Sherman war Jüdin. Sie überlebte den Todesmarsch, der sie vom KZ Fuhlsbüttel über den Ochsenzoll an der Grenze von Hamburg und Schleswig-Holstein führte, entlang der Ulzburger Straße durch die Dörfer Garstedt, Harksheide und Friedrichsgabe, über Henstedt und Ulzburg nach Kaltenkirchen bis Kiel-Hassee. Ein Martyrium, das Hilde Sherman in ihrem Buch „Zwischen Tag und Dunkel, Mädchenjahre im Ghetto“ (1984, Ullstein-Verlag) aufgeschrieben hat.

Sie war die einzige ihrer Familie, die den Holocaust überlebte. Am 22. März 1923 in Wanlo bei Mönchengladbach als Hilde Zander geboren, wurde sie mit ihrem damaligen Ehemann Kurt Winter ins Getto Riga deportiert. Nach 1945 heiratete sie Willy Sherman, wanderte erst nach Bogota in Kolumbien aus und emigrierte dann nach Israel. Sie starb am 11. März 2011 in Jerusalem.

„Das Gefühl, jetzt dieselbe Strecke zu gehen wie damals meine Mutter in all ihrer Qual, ist unglaublich, es ist ein tief berührendes Gefühl, ich bin erschüttert“, sagt Ruthy Sherman.

„Andererseits bin ich mit Freude erfüllt, denn ich treffe auf diesem Marsch des Lebens so viele liebevolle, warmherzige und offene Menschen, die mir deutlich zeigen, dass sich der Geist in Deutschland gewandelt hat“, sagt Ruthy Sherman.

Zudem habe sie das Gefühl, dass sich für sie mit dem Marsch über die damalige Todesstrecke ein Kreis schließen würde. Doch erst durch das jetzige Erlebnis würde ihr die Ungeheuerlichkeit bewusst werden, dass niemand der Anwohner der damaligen Marschroute die ausgemergelten Menschen in ihrer zerrissenen Sträflingskleidung und ihre Peiniger gesehen haben will. „Solche Aktionen sind heute mehr denn je wichtig, denn der Antisemitismus nimmt in Europa und in den USA dramatisch zu“, sagt Sherman.

„Es ist mir ein tiefes Anliegen, dass das, was im sogenannten Dritten Reich geschehen ist, nicht vergessen wird“, sagt Klaus Stahlberg aus Fuhlsbüttel. Der 74-Jährige ging die Strecke bis Kaltenkirchen und will auch das letzte Stück bis Kiel-Hassee begleiten.

„Ich hoffe auf Vergebung, denn nur durch Vergebung kann sich Neues entfalten, schließlich hat Gott die Vergebung durch Jesus’ Tod am Kreuz ermöglicht“, sagt der gläubige Christ.

Stahlberg berichtete von ergreifenden Szenen am Gedenkabend in der Fuhlsbütteler Lukaskirche, bei der Klaus Tessmann, dessen Großvater Willi Tessmann der letzte Kommandant des KZs Fuhlsbüttel war, die Überlebenden des Todesmarsches und ihre Angehörigen knieend um Verzeihung gebeten habe. „Es flossen Tränen“, sagte Stahlberg ergriffen.

In Kaltenkirchen empfing die Michaeliskirche die Teilnehmer am Marsch des Lebens und enthüllte eine Mahntafel, die an die NS-Vergangenheit der Kirche und ihren NS-Pastor Ernst Szymanowski-Biberstein erinnert. Organisiert wird der Marsch des Lebens von einer Initiative des Vereins Christliche Israelfreunde. Am Sonntag, 19. April, soll der Marsch in Kiel-Hassee enden, im ehemaligen Arbeitserziehungslager Nordmark.