Henstedt-Ulzburg. 1945 suchten Millionen Menschen aus dem Osten eine neue Heimat. Horst Anduleit kam damals mit Mutter und Bruder nach Ulzburg.
„Hallo, Horst! Schön, dass wir uns mal wieder sehen“, sagt Jürgen Kühl, 84, und begrüßt den Gast herzlich. Annelie Schefe, 82, hat Horst Anduleit, 80, und ihren Bruder Jürgen zum Frühstück in ihr schmuckes Haus am Galgenweg in Ulzburg-Süd eingeladen.
Der pensionierte Oberstudiendirektor und Leiter der Theodor-Mommsen-Schule in Bad Oldesloe, die langjährige Vorsitzende des Hausfrauenbundes und Bürgerpreisträgerin in Henstedt-Ulzburg und der ehemalige Flüchtling aus der 1944 von den Russen bedrängten Stadt Memel, dem heutigen Klaipeda, kennen sich seit 70 Jahren, sie wohnten fünf Jahre im selben Haus. Seitdem haben sie den Kontakt nicht abreißen lassen.Frieda Anduleit und ihre Söhne Horst und Harry, damals zehn und fünf Jahre alt, hatten nach sechsmonatiger Irrfahrt im Februar 1945 im Elternhaus von Jürgen Kühl eine vorübergehende Bleibe gefunden. „Meinen Eltern hat das zunächst nicht gepasst“, erinnert sich Kühl.
Ulzburgs Bürgermeister Heinrich Petersen, seit 1930 NSDAP-Mitglied und Ortsgruppenführer, hatte zu jener Zeit das alleinige Sagen in der Gemeinde. Er ordnete auch an, wo die Flüchtlinge untergebracht werden sollten.
Jürgen Kühl, damals 14 Jahre alt, hatte als Jungvolkführer auch schon Verantwortung. „Ich habe die Uniform gerne getragen“, sagt er. Das Deutsche Jungvolk war eine Organisation der Hitler-Jugend für „Pimpfe“ zwischen zehn und 14 Jahren. Ziel war es, die Heranwachsenden im Sinne des Nationalsozialismus zu erziehen und vormilitärisch auszubilden.
Schon nach kurzer Zeit verstanden sich Einheimische und Flüchtlinge gut
„Ich habe die Jugend von Ulzburg und Umgebung kommandiert“, erzählt Jürgen Kühl. „Der Bürgermeister gab mir eine Liste mit Namen, ich musste die Trecks über die Höfe verteilen. Wenn Petersen befahl, die Familie X kommt zu Bauer Wördemann nach Westerwohld, dann habe ich sie hingebracht. Die Hofbesitzer mussten die Flüchtlinge aufnehmen, ob sie wollten oder nicht.“
In Flüchtlingskreisen kursierte damals der Spruch: „Die Einheimischen haben einen Kopf aus Holz und ein Herz aus Stein.“ Manche der Neuankömmlinge beschwerten sich auch über die englische Besatzungsmacht. Sie hätten angeblich die schönsten Häuser und Wohnungen im Ort besetzt.
Auch im Hause Kühl an der Hamburger Straße gewöhnten sich die Menschen aus Ost und West schwer aneinander. Jürgen, der Jungvolkführer mit Befehlsgewalt, musste den Anduleits sein Zimmer über der Treppe, das keine Tür hatte, überlassen.
„Der Raum war nicht beheizbar, ohne Klosett, Wasch- und Kochmöglichkeit“, erinnert sich Horst Anduleit, „doch die Frauen verstanden sich nach Anfangsschwierigkeiten immer besser. Wir durften die Küche, in der sich praktisch das ganze Leben abspielte, mitbenutzen. Es dauerte nur kurze Zeit, bis wir ein zweites Zimmer bekamen.“
Seine Mutter Frieda, laut Annelie Schefe ein „perfektes Frauenzimmer“, nähte aus alten Militärdecken Jacken und Mäntel für die Hausbewohner und war bald sehr beliebt.
Schon in den ersten Nachkriegsjahren wurde gemeinsam gefeiert. Das beweist ein Foto aus dem Jahr 1949. Als Horst Anduleit konfirmiert wurde, stellten sich Verwandte und Freunde beider Familien im Garten für ein Gruppenbild auf.
Horst Anduleit hat nie daran gedacht, wieder in der alten Heimat zu leben
Annelie Schefe hat in ihren Alben gekramt und ein Foto gefunden, an das sie sich gerne erinnert. Es zeigt eine Szene, in der sie im Wohnzimmer ihrer Eltern mit Horst Anduleit plaudert. Zweieinhalb Jahre nach seiner Ankunft in Ulzburg hatte der Junge aus Memel noch keine Schule besucht. „Ich sollte in Kaltenkirchen eingeschult werden, aber dazu hatte ich keine Lust“, sagt Horst. „Die Eisenbahn fuhr unregelmäßig, und jeden Tag sieben Kilometer Fußmarsch war mir zu viel.“
Seit 55 Jahren leben der gelernte Betriebsschlosser und Ehefrau Ingeborg in ihrem Haus an der Jahnstraße, nur wenige Hundert Meter von ihrer ersten Bleibe entfernt. Dreimal nach der politischen Wende 1990/91 besuchten sie Klaipeda, aber an eine dauerhafte Rückkehr hat Horst nicht ernsthaft gedacht.
Dass er sich irgendwann in Ulzburg heimisch fühlte, dazu haben Annelie und Jürgen Kühl viel beigetragen. „Es war schon bemerkenswert, wie wildfremde Menschen fünf Jahre lang auf sehr engem Raum zusammenleben konnten“, wundert sich der pensionierte Rektor aus Bad Oldesloe heute noch. Der Treff zu Dritt bei seiner Schwester Annelie soll nicht der letzte gewesen sein.