Lebensgefahr für Notärzte und Helfer: Bereits zweimal schlug der Täter zu. Bei Einsatzfahrten löste sich ein Zwillingsreifen. Die Polizei ruft die Bürger zur Mithilfe auf.
Norderstedt. Bei den Hilfsorganisationen im Kreis Segeberg geht die Angst um. Zum zweiten Mal binnen weniger Wochen hat ein Unbekannter Radmuttern an einem Rettungswagen gelöst. Am Dienstagabend lösten sich in Norderstedt während einer Fahrt mit Blaulicht und Martinshorn zwei Räder von einem Einsatzfahrzeug des Deutschen Roten Kreuzes. Ein nahezu identisches Szenario erlebte eine Rettungswagenbesatzung des Norderstedter KBA im August. Patienten und Retter überstanden die Zwischenfälle unverletzt. Jetzt ermittelt die Polizei und bittet um Hinweise. „Diese Vorfälle sind extrem gefährlich“, sagte eine Sprecherin der Polizeidirektion.
Die Besatzung des Rotkreuz-Rettungswagen der Wache Henstedt-Ulzburg war am Dienstag mit einer schwerkranken Patienten auf dem Weg ins Hamburger Krankenhaus Heidberg. Ebenfalls an Bord befand sich ein Notarzt, der die Frau behandelte. An der Ecke Poppenbütteler Straße/Tangstedter Landstraße spürten die Insassen gegen 19 Uhr plötzlich eine heftige Erschütterung, das Fahrzeug neigte sich hinten links schlagartig nach unten. Ein Reifen überholte das Fahrzeug. Dem Fahrer gelang es, die Kontrolle über den Rettungswagen zu behalten und ihn zu stoppen. Die Patienten wurden mit einem sofort alarmierten zweiten Rettungswagen ist Krankenhaus gefahren.
Schon auf den ersten Blick war die Ursache des Zwischenfalls klar: Am hinteren linken Zwillingsrad fehlten alle sechs Muttern. Eines der Räder war abgefallen, das zwei hatte sich im Radkasten verkantet. „Man mag gar nicht daran denken, was passiert, wenn so etwas auf der Autobahn passiert“, sagte ein Mitarbeiter des Rettungsdienstes.
Dass weder ein Montagefehler noch Materialermüdung die Ursache für das Unglück waren, bestätigte ein Mitarbeiter der Fachwerkstatt, der den Rettungswagen untersuchte. Die Spuren deuten seiner Ansicht eindeutig darauf hin, dass ein Unbekannter die Radmuttern abgeschraubt hat. Wären sie nur locker gewesen, hätten sich die Bolzen verzogen. Außerdem wären die Gewinde beschädigt worden. Das Rote Kreuz erstattete Anzeige bei der Polizei.
„Dieser Vorfall ist wirklich besorgniserregend“
Tatort war vermutlich der letzte Einsatzort des Rettungswagens an der Segeberger Chaussee zwischen Am Kielortplatz und der Straße Kielort. Vermutlich machte sich der Täter an dem Fahrzeug zu schaffen, als die Retter die schwerkranke Patientin behandelten, bevor sie zum Krankenhaus gefahren wurde. Um künftig Manipulationen auszuschließen, blieben ab sofort Umfeldbeleuchtung und Blaulicht eingeschaltet, wenn die Rot-Kreuz-Helfer das Auto am Einsatzort verlassen. Außerdem müssen sie vor der Abfahrt die Radmuttern überprüfen.
„Dieser Vorfall ist wirklich besorgniserregend“, sagt ein Rettungsassistent. „Da spielt jemand mit dem Leben anderer Menschen.“ Groß sei beispielsweise die Gefahr, dass ein Rettungswagen bei einer Einsatzfahrt umkippt.
Ähnliche Sorgen macht sich Michael Beitz, Organisationsleiter bei der Norderstedter Hilfsorganisation KBA. „Die Sorgen und die Aufregung bei den Mitarbeitern sind groß.“ Seine Kollegen erlebten einen ähnlichen Zwischenfall am 14. August. Auf der Ohechaussee in Norderstedt löste sich während einer Einsatzfahrt von der Hinterachse des Fahrzeugs ein Zwillingsreifen. Einer der Reifen traf ein Auto auf der Gegenfahrbahn und richtete Blechschaden an, der zweite flog auf das Dach des Geschäfts Meyers Mühle. Das Fahrzeug der Norderstedter Hilfsorganisation KBA war nicht mehr fahrbereit. Für den Notfalleinsatz alarmierte die Rettungsleitstelle einen zweiten Wagen.
Täter gefährde besonders kranke Patienten
KBA und Polizei vermuteten zunächst, dass sich ein Radbolzen gelöst hat. Unglücksursache könnte Materialermüdung sein, sagte Polizeisprecherin Silke Westphal. Das Auto war zuvor in einer Werkstatt gewartet worden. Ein Gutachter des TÜV kam jedoch zu einem anderen Ergebnis und spricht von einer Manipulation unmittelbar vor dem Beginn der Fahrt. Darauf deuten – wie im Fall des Rot-Kreuz-Rettungswagen – die Spuren hin. Außerdem betrug die Fahrstrecke vom Start bis zum Ablösen des Zwillingsreifen knapp 1000 Meter. Das ist nach Angaben des Sachverständigen genau die Distanz, auf der sich Räder lösen, wenn Radmuttern fehlen.
Rätselhaft ist, wo der Täter zugeschlagen hat. Der Rettungswagen stand vor dem Alarm in der KBA-Wache an der Ohechaussee. Die Türen sind gesichert. Auch der KBA hat seine Mitarbeiter aufgefordert, wo jeder Fahrt das Fahrzeug genau zu überprüfen.
Der Täter gefährde Fahrzeugbesatzungen und andere Verkehrsteilnehmer, besonders aber die Patienten, die krank oder verletzt sind, sagte Polizeisprecherin Sandra Mohr. „Das macht die Sache umso schlimmer.“
Sechs ähnliche Fälle melden Polizei und Rettungsdienste aus der Region Cloppenburg und Oldenburg (Niedersachsen). Der 24-jährige Mitarbeiter eines Rettungsdienstes bemerkte am 28. September während einer Fahrt mit seinem Privatauto ein ungewöhnliches Schlingern und entdeckte gelöste Radmuttern an einem Hinterrad. Einen Tag zuvor wurden an einem Rettungsfahrzeug in Ahlhorn die Muttern gelöst. Die Polizei warnte daraufhin die Hilfsorganisationen in der Region. Auch die Bundeswehr verzeichnete diverse Fälle und warnte ihre Beschäftigten.
In Norderstedt ermittelt die Polizei wegen des Verdachts des gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr und Zerstörung wichtiger Arbeitsmittel. Die Ermittler bitten im Hinweise. Polizeisprecherin Sandra Mohr: „Die Polizei möchte außerdem sensibilisieren und bittet darum, jede verdächtige Person an Rettungswagen sofort über 110 zu melden.“