Im nächsten Jahr geht es ohne NDR weiter. Die Produktionskosten und die Künstlergagen sind zu hoch. „Kalkberg 2015“ ist dann das Motto der Veranstaltung. Jürgen Drews ist wieder dabei.

Bad Segeberg. Marlin Petersen aus Flensburg und Cornelia Breckwoldt aus Hamburg kannten sich bisher nicht, aber sie liegen sich schon nach 30 Minuten in den Armen: Bier in der Hand, Schleifchenhut auf dem Kopf – die Stimmung kennt keine Grenzen. Wer es noch nicht mitgemacht hat, wundert sich. Wer eigentlich keine Schlager mag, wird zwangsläufig mitgerissen: Die Schlagernacht der Welle Nord ist Kult. Aber den „Kult am Kalkberg“ wird es in dieser Form wohl nicht mehr geben: 20 Jahre Schlager am Kalkberg und alles ist vorbei. Der NDR, so heißt es offiziell, zieht sich zurück. Aber die Paaddie geht weiter: Im kommenden Jahr heißt es schlicht „Kalkberg 2015, Schlager, Kult und Party“. Wenn der NDR nicht mehr will, dann eben ohne ihn.

Seit Monaten ausverkauft. Aus allen Teilen Norddeutschlands rücken die Schlagerfans an. Bringen sich auch ohne Musik rechtzeitig in Stimmung, setzen lustige Hütchen auf, bearbeiten die aufblasbare Gitarre und sind von vorne bis hinten guter Dinge. Da macht es auch nichts, wenn sich vor dem Frittenstand und sogar vor den Herrentoiletten lange Schlangen bilden. Das nehmen die Besucher geduldig hin.

Über 10.000 Zuschauer bringen den Kalkberg am Sonnabend zum Beben, obwohl die ganz großen Stars der Schlagerbranche eigentlich gar nicht auf der Bühne stehen. Helen Fischer und Andrea Berg sind eben unbezahlbar, aber Klaus & Klaus machen wahrscheinlich mehr Stimmung. Sie führen eine Polonaise durchs Publikum an, lassen die Nordseeküste hoch leben und sind sich auch nicht zu schade aus dem kritischen Apartheid-Song „Gimme Hope Jo’anna“ einen Fußballsong mit dem Titel „Give Me Hope, Joachim“ zu machen. Egal. Die Leute singen und klatschen verzückt mit.

„Das ist total genial hier“, ruft die Flensburgerin Marlin und ist glücklich, obwohl die mitgereisten Herren leider abhanden gekommen sind. „Sehr geil“ findet es ihre neue Schlagerfreundin Cornelia aus Hamburg. Paddy und seine Freundin Jill haben sich zur roten Luftgitarre geschmackvoll in Orange gekleidet und können gar nicht aufhören, sich vor lauter Verzückung in den Armen zu liegen. Petra Gabriel und Sabine Schular sind mit einem Reisebus aus Munster in der Lüneburger Heide angereist. Natürlich nicht alleine, sondern mit 48 anderen Frauen, die fast ihre alle blaue Perücken aufgesetzt haben und in den ersten Reihen vor der Bühne für Stimmung sorgen.

Die meisten Schlagersänger auf der Bühne sind lange genug im Geschäft, um zu wissen, wie man das Publikum um die Finger wickelt. Harpo, mit Zauselbart und natürlich Barfuß, steigt hinunter von der Bühne und taucht in der Menge ab, Frank Zander, nicht angekündigter Überraschungsgast, lässt für sein Geburtstaglied die Hamsterchen auf der Bühne tanzen, Liz Mitchell hat mit den großen Hits von Boney M. ohnehin leichtes Spiel. Die Zuschauer können jede Zeile mitsingen. Aber niemand beherrscht die Kunst, das Publikum mitzureißen, so gut wie Jürgen Drews. Der „König von Mallorca“ schüttelt sein Charisma aus dem Handgelenk, tänzelt mit seinen 69 Jahren so locker über die Bühne wie ein 20-Jähriger und hat die Arena im Griff. Man muss diesen Sänger nicht mögen, wirklich nicht, aber er auch Kritiker müssen anerkennen, dass er die hohe Kunst beherrscht, sein Publikum mitzureißen. Außerdem dabei: Die Oldie-Band Sailors, die Damengesangsgruppe Bellini mit Südamerikanischen Klängen, die niederländischen Vengaboys mit Partyhits und die NDR 1 Welle Nord Hit Radio Show, die als Begleitband meist im Hintergrund bleibt. Moderator Christian Schröder hätte sein verkniffenes Gesicht gerne in der Garderobe lassen können. Aber auch wenn er meistens den Eindruck macht, als ginge er zum Lachen in den Keller, führt er doch souverän durchs Programm.

Nach der 20. Schlagernacht am Kalkberg verabschiedet sich der NDR von der Veranstaltung. Die Produktionskoten und die Künstlergagen sind zu hoch, das Budget hingegen zu knapp. Aber die Agentur Tiedemann art production macht auch ohne den NDR weiter: Im nächsten Jahr heißt es „Kalkberg 2015“. Gebucht sind bis jetzt Jürgen Drews, Ireen Sheer, Peter Wackel, Vater und Sohn Cordalis, Anna Maria Zimmermann, Achim Petry, Ross Antony und die Coverband Abba Fever. Die Tiedemann-Agentur weiß, wie eine solche Veranstaltung aufgezogen wird: Sie hat die Schlagernacht stets für den NDR organisiert.

Aber auch beim NDR scheint das letzte Wort noch nicht gesprochen: Und am Rande der letzten Kultnacht am Kalkberg wird hinter vorgehaltener Hand darüber gesprochen, dass der NDR vielleicht doch dabei bleibt. Aber eine offizielle Erklärung gibt es dazu nicht.