Vor 100 Jahren entdeckten spielende Kinder den Eingang zur Segeberger Kalkberghöhle. Eine Attraktion ist die Höhle bis heute geblieben.
Bad Segeberg . Der 16. März 1913 war ein Tag, der in Bad Segeberg alles auf den Kopf stellte und das Zeitalter des Tourismus einläutete. Spielende Kinder hatten damals am Fuße des 91 Meter hohen Kalkbergs ein mysteriöses Loch entdeckt, dem bis dahin niemand Beachtung geschenkt hatte. Schon drei Tage später stand fest: Dieses Loch ist der Einstieg zu einer großen Höhle, die nicht nur die europäischen Forscher, sondern auch die Segeberger Lokalpolitiker in Aufruhr versetzte.
Im Rathaus wurde ganz schnell reagiert; denn die Menschen wollten damals das Neue, das Unentdeckte. "Viele waren regelrecht hungrig nach Höhlen", sagt Anne Ipsen, Diplom-Biologin und als Geschäftsführerin des Fledermauszentrums Noctalis in Bad Segeberg seit 2006 verantwortlich für die Kalkberghöhle. "Überall wurden zu dieser Zeit Höhlen entdeckt, es gab neue Bahnlinien, dadurch waren viele Höhlen in Deutschland auch gut erreichbar." Schon fünf Monate später, am 24. August 1913 eröffnete die Stadt Segeberg die Schauhöhle offiziell und hatte damit eine Touristenattraktion mitten in der Stadt.
Am ersten Wochenende besichtigten bereits 271 Menschen die Segeberger Gipshöhle. Dabei nahmen sie einen beschwerlichen Einstieg inkauf: Weil es keine Treppe gab, mussten sich die abenteuerlustigen Besucher über Strickleitern und Holzleitern zwölf Meter tief hinabhangeln. Damals gab es natürlich auch noch keine elektrische Beleuchtung in der Höhe. Die wurde erst 1919 installiert.
Eine Attraktion ist die Kalkberghöhle bis heute geblieben: Rund 6,7 Millionen Besucher wurden bis heute gezählt. Nach den Karl-May-Spielen ist die Höhle die größte Touristenattraktion im ganzen Kreis Segeberg. Rund 40 000 Besucher, darunter viele Schulklassen, lassen sich pro Jahr durch die 300 Meter öffentlich zugänglichen Höhlengänge der insgesamt rund 2,2 Kilometer langen Höhle führen.
Für Höhlenforscher hat sie bis heute eine ganz besondere Bedeutung. Sie ist einzigartig in Europa, weil das Grundwasser plötzlich abgesenkt wurde und der Entstehungsprozess der Höhle sehr gut zu erkennen ist. "Für Geologen ist die Höhlenbildung eine Sensation", sagt Anne Ipsen. Zeitpunkt und Umstände des Wasserabflusses aus der Höhle sind nicht bekannt, doch gibt es Vermutungen, dass die unweit der Höhle vorgenommenen - und letztlich gescheiterten - Probebohrungen zur Steinsalzgewinnung in den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts den Wasserkörper des Kalkbergs derart beeinträchtigt haben könnten, dass sich dieser deutlich absenkte. Die Dynamik der Höhle ist für Geologen gut sichtbar.
Die älteren Fledermäuse zeigen den jungen den Weg zur Höhle
Eine große Bedeutung hat die Höhle für die Biologen. Denn nach Bad Segeberg flattern Jahr für Jahr rund 22 000 Fledermäuse (acht Arten), um hier zu überwintern. Damit ist sie das größte Winterquartier für Fledermäuse in Nordeuropa. Seit 80 Jahren werden die Tiere beringt; deshalb weiß man, dass die Segeberger Höhle ein Einzugsgebiet von etwa 150 bis 200 Quadratkilometern hat.
Die Spaltenstrukturen der Höhlendecke sind für die fliegenden Säugetiere ideal, die klimatischen Bedingungen sind verlässlich - egal, wie das Wetter draußen ist.
Warum die Fledermäuse immer wiederkommen, können die Fledermaus-Forscher nur vermuten. "Wir gehen davon aus, dass die älteren Tiere den jungen den Weg zur Höhle zeigen", sagt Anne Ipsen. Diese Vermutung wird durch Zählungen und Überwachungen der Zugänge erhärtet: Mit Ausnahme der Zeit von Ende Mai bis Mitte Juli, wenn die Jungtiere anderswo geboren werden - die Höhle ist als Wochenstube zu kalt -, herrscht ein reges An- und Abfliegen am Kalkberg. Schon Ende Juli kommen viele Fledermäuse, die tagsüber in der Höhle schlafen und nachts aktiv sind. An den Lärm der Karl-May-Spiele haben sich die Tiere offenbar gewöhnt. Wenn die Fledermäuse schließlich in großen Scharen eintreffen, um ihr Winterquartier zu beziehen, sind die Indianerspiele längst beendet. Nur bis zum ersten September-Wochenende darf gespielt und geschossen werden. Dann muss Schluss sein.
Weil die Fledermäuse hier vermutlich seit Tausenden von Jahren überwintern, gibt es in der Höhle noch eine Besonderheit: Der Höhlenkäfer ernährt sich vom Kot der Fledermäuse und vertilgt auch verendete Tiere. Der "Meister der Dunkelheit" fasziniert Biologen, weil es ihn nur hier in Bad Segeberg und sonst nirgends auf der Welt gibt. Etwa 10 000 Käfer sind während der Wintermonate aktiv, im Sommer machen sie "Siesta" und lassen sich auch durch Käse und andere Leckereien nicht aus ihren Quartieren locken.
Anne Ipsen kennt sich besonders gut aus mit dem "Choleva septentrionis holsatica": Sie hat das Leben dieser Krabbler erforscht und darüber vor 20 Jahren ihre Doktorarbeit geschrieben. "Die Käfer haben sich über mehrere Jahrtausende angepasst", sagt die Biologin. "Ihre Artbildung kann hier im Prozess beobachtet werden." Sie ist darauf bedacht, die Balance zwischen Tourismus und Ökologie am Kalkberg zu wahren. Deshalb wurde das Licht im begehbaren Teil der Höhle stark gedimmt, im übrigen 1,8 Kilometer langen Teil der Höhle bleibt es immer dunkel. Hochbetrieb herrscht hier vor allem während der Karl-May-Saison von Juni bis September: An manchen Tagen wird alle zehn Minuten eine neue Besuchergruppe durch die Höhle gefühlt.