Die Abendblatt-Reihe Unterwegs... begleitet Menschen mit außergewöhnlichen Berufen und Hobbys. Heute: Sabine Freitag aus Schmalfeld.

Norderstedt. Jetzt muss Torben auf die Zähne beißen. Sabine Freitag hält die Haut am Unterarm des 27-Jährigen mit drei Fingern straff, während sie mit der rechten Hand behutsam die Nadel anlegt. Ein leises Surren begleitet die Prozedur, die mit Vorfreude beginnt, mit höchster Konzentration durchgeführt werden muss und deren Resultat später anerkennende Blicke auf sich ziehen wird. Wer sich tätowieren lässt, trifft eine Grundsatzentscheidung für ein Kunstwerk auf seinem Körper.

Damit dieses auch exakt den Vorstellungen entspricht, gibt es Künstler wie Sabine Freitag. Die Schmalfelderin ist regelmäßig quer durch Norddeutschland unterwegs, um "Leute zu pieken", wie sich es selbst salopp beschreibt. "Mobil-Tattoo" nennt sie ihren Ein-Frau-Betrieb auf Achse. Es ist ihr zweites Leben, ihre kreative Seite.

Von Montag bis Freitag, stets von Punkt 8.30 Uhr bis 13 Uhr, gibt es dazu das absolute Kontrastprogramm. Denn Sabine Freitag verdient ihren Lebensunterhalt nicht ausschließlich mit dem Tätowieren.

Bis 13 Uhr arbeitet Sabine Freitag im Büro, dann folgen die Tattoo-Termine

Als Sekretärin der Förderschule am Lakweg in Kaltenkirchen kümmert sich die gelernte Bürokauffrau seit 2002 halbtags um den kompletten Verwaltungsaufwand. "Ich bin das Mädchen für alles", sagt Sabine Freitag. Das ist meist wenig aufregend und auch nicht unbedingt abwechslungsreich. Vielleicht hatte sie deswegen die Sehnsucht nach einer parallelen, komplett anderen Aufgabe.

Und so saß sie eines Tages vor fünf Jahren daheim, hatte ihren Lebenspartner und die zwei Kinder nach eigener Aussage schon lange "genervt" mit ihrem Traum, und ließ sich dann sanft dazu drängen, sich zu trauen. Die Tätowiererin Sabine Freitag war geboren. Heute sagt sie rückblickend: "Man muss einfach den Mut aufbringen, Dinge, die im Hinterkopf schweben, anzupacken." Fast jeder Mensch hatte natürlich schon einmal diese eine verrückte Idee, die nicht verschwinden wollte aus den Gedanken. Nur der entscheidende Schritt zur Überwindung ist bekanntermaßen nicht zu unterschätzen.

Doch die 45 Jahre alte gebürtige Hamburgerin sagte "ja", meldete ihr Gewerbe an und suchte sich das nötige Equipment zusammen. "Ich habe zuerst Material gekauft, hatte aber von nichts Ahnung. Dann habe ich an Schweinefüßen operiert, das hat sich sehr gut angefühlt."

Daraufhin wagte Sabine Freitag den Selbstversuch, um ihre Eignung als Tätowiererin zu testen. "Die Fragen war: Wie fühlt sich das an, wenn ich es mache? Kann ich mich überwinden, habe ich ein Feingefühl?"

Im Hamburger Schanzenviertel baut die Tätowiererin ihr mobiles Studio auf

Kurz geantwortet: ja. Sonst würde sie sich nicht einige Jahre später an einem Freitagnachmittag im Schanzenviertel mit der Nadel auf Torbens Unterarm verewigen. Der Werbekaufmann musste sich wegen eines Wasserschadens in der eigenen Wohnung kurzfristig einquartieren im Hinterzimmer der "Kabine 83".

Dort, in Nachbarschaft zur berühmten Roten Flora an der Straße Schulterblatt, verkauft sein Kumpel "Kaschi" individuell bedruckte T-Shirts und Accessoires. Sabine Freitag ist durch den Berufsverkehr in die "Schanze" gefahren und trifft dort auf einen Kunden, der genaue Vorstellungen hat. Ein Mikrofon im Stil der 50er-Jahre, eingeflochten in ein Spinnennetz, darunter eine Banderole mit der Inschrift "Sex, Drugs & Rock 'n' Roll" und Verzierungen mit Notenzeichen sowie den Favoriten des Musik-Liebhabers sind gewünscht. Alles soll mit rötlicher Färbung versehen werden.

+++Tattoo-Convention: Wenn der Körper zur Leinwand wird+++

Als Grundlage für das Projekt dient eine Handzeichnung, ehe Sabine Freitag kurz die Details abspricht, mit einem Kugelschreiber die Konturen vormalt und schließlich um 16.47 Uhr zunächst das Spinnennetz sticht. "Tut weh?", fragt sie. "Nö!", sagt Torben. Später wird es ziehen - es ist eine Schutzreaktion der Haut, die nicht kontrolliert werden kann.

Und überhaupt - wer ein Tattoo haben möchte, ist leidensfähig. "Ich kann den Schmerz nicht beschreiben. Er ist Mittel zum Zweck - ich bin bereit, dafür zu leiden. Der Schmerz ist für etwas, das ich haben möchte", sagt Torben, der Sabine Freitag über Google gefunden hat. "Ich hatte Bedenken, in ein normales Studio zu gehen. Ich wollte da nicht auf dem Präsentierteller liegen."

Manche Kunden empfängt Freitag auch daheim in Schmalfeld

80 Prozent ihrer Kunden, rechnet die Tätowiererin vor, besucht sie außer Haus. Es geht beispielsweise in Richtung Heide, Rendsburg oder Kiel. Nach Schmalfeld fahren in der Regel nur diejenigen, die sowieso im Kreis Segeberg wohnen. "Es hat beides Vor- und Nachteile", erklärt Sabine Freitag. "Ich bin gerne unterwegs, ich bin ein Zugvogel. Ich mache mein Cabrio auf und los geht's. Aber die Fahrzeit geht eben verloren, weil es manchmal dauert, bis ich bei den Kunden ankomme."

Die Arbeit im Schulsekretariat bleibt zwar an erster Stelle. Aber das mobile Tattoo-Studio nimmt viel Raum ein. Momentan ist Freitag fast täglich auf auswärtigen Terminen, die sie bedingt durch die Benzinpreise jedoch zu koppeln versucht. "Wegen eines einzelnen Kunden kann ich es mir eigentlich nicht leisten loszufahren."

Es ist 17.23 Uhr, der Text ist an der Reihe. Torben verzieht das Gesicht - je dünner die Haut ist, je näher an der Vene gestochen wird, desto schmerzhafter. "Gefällt mir gut!", sagt er allerdings mit Blick auf das sich abzeichnende Werk. Zwischen den Arbeitsschritten macht Sabine Freitag Pausen, säubert Nadeln, desinfiziert die Haut und wechselt die Gummihandschuhe. Ein fertiges Tattoo muss mit Folie vor Schmutz und Bakterien geschützt werden, bis die Wunden verheilt sind. Gewaschen wird dann vorerst nur mit pH-neutraler Seife, verboten sind für vier Wochen Solarien, Saunen, freie Gewässer und Schwimmbäder.

18.37 Uhr. Sabine Freitag legt die Nadel beiseite, nachdem sie die Schattierungen gestochen hat. Zwei Stunden zuvor war der Unterarm noch nackt, jetzt guckt Torben zufrieden auf das vollendete Motiv. Sofort wird das iPhone gezückt und fotografiert. Eines haben alle gemeinsam, die sich für ein Tattoo entscheiden - ganz gleich, ob nun bei antiken Völkern vor Jahrtausenden oder eben anno 2012 mitten in Hamburg. "Bei mir sind alle Altersgruppen und gesellschaftlichen Schichten vertreten. Aber sie sind alle furchtbar ungeduldig. Und viele sind stolz auf sich selbst", sagt Sabine Freitag.

Sie ist nun bester Dinge. Der Termin hat ihr vor Augen geführt, warum sie das Tätowieren so liebt. "Ich komme mit interessanten Leuten zusammen, es geht sehr freundschaftlich zu. Und ich habe gelernt, Menschen nicht auf den ersten Blick zu bewerten, sie nicht in Schubladen zu stecken."