Immer mehr Großstädter werden zu Teilzeit-Provinzlern, ziehen am Wochenende aufs Dorf. Das Abendblatt hat Hamburger im Wendland aufgespürt.
Dannenberg. Die Nachbarin sei eine echte Ziege. Natürlich meckere in der Großstadt auch schon mal jemand über den Gartenzaun, aber nicht so tierisch wie Roberta. Morgens, wenn Katia Schneider auf der Terrasse Yoga macht und mit den Augen das Weite sucht, kommt die vierbeinige Nachbarin ihr gern ganz nah. "Ich lebe hier meinen Bullerbü-Traum", sagt Katia Schneider.
Seit Januar ist die 33-jährige Hamburgerin mit ihrem Freund Jörg Kröger in einem ausgebauten, ehemaligen Stall in Weitsche, einem 53-Seelen-Dörfchen im Nirgendwo des Wendlands, zuhause. Von freitags bis montags. Ein Leben als Landei in Teilzeit. Wie es Hunderte von Großstädtern führen, die es am Freitagabend von Hamburg aus ins Alte Land, an die Schlei oder eben ins Wendland zieht.
Die Arbeitswoche verbringen Katia Schneider und ihr Freund in Hamburg, tagsüber im Büro, abends in einer kleinen Wohnung am Hein-Köllisch-Platz, mitten auf St. Pauli. Am Wochenende wohnen sie auf dem Land. Mehr Gegensatz geht nicht. Während der Woche die Hochfrequenz des urbanen Lebens, das Gewühl, der Stress, die Stadtwohnung ohne Balkon. Am Wochenende die Entschleunigung, die Gemächlichkeit, die Stille, eine große Wohnung mit Garten. "Es ist, als wenn du freitags bewusst auf die Bremse trittst und das Tempo ein bisschen rausnimmst", sagt Jörg Kröger, während er in einem schaukeligen, alten Holzstuhl sitzt.
Sonntags abends, wenn die Rückfahrt in die Stadt näher rücke, werde er oft ganz melancholisch, sagt der 35-jährige Software-Entwickler und rückt seinen Strohhut zurecht. "Ich denke mir dann jedes Mal, dass ich doch gern länger auf dem Land bleiben würde."
Länger schon, für immer nicht. Die meisten Jobs gibt es in den Städten, für ein tägliches Pendeln sind beispielsweise die zwei Stunden Fahrzeit zwischen Hamburg und Wendland den meisten zu viel. Soziologen beobachten schon seit Jahren eine "Landflucht", eine zunehmende Urbanisierung. Von den knapp 82 Millionen Deutschen leben laut Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung derzeit 60 Prozent in großen und mittelgroßen Städten. Ein globaler Trend. Die Vereinten Nationen schätzen in einem Bericht, dass 2050 schon 70 Prozent der Weltbevölkerung in Metropolen wohnen werden. Noch vor 40 Jahren hatte jedes Stadtkind eine Oma auf dem Land, heute machen Landwirte gerade mal zwei Prozent der deutschen Bevölkerung aus - so wenig wie nie zuvor.
Die Stadt ruft, sie bietet alles - nur eben keine Ruhe. Das Landleben mit glücklichen Kühen, frei laufenden Hühnern und Betten im Kornfeld wird zur urbanen Projektion, zum Kopfkino vieler Großstädter. "Die Sehnsucht nach Natur bleibt. Es gibt den Wunsch, geerdet zu werden und womöglich auch mal in der Erde zu wühlen", sagt Antje Schünemann vom Trendbüro Hamburg.
"Ich hätte nie gedacht, wie meditativ Unkrautjäten sein kann", sagt Katia Schneider, die sich gerade drei Monate unbezahlten Urlaub von ihrem Bürojob genommen hat, um den Sommer in der etwa 100 Quadratmeter großen, angemieteten Wohnung in dem Rundlingsdorf zu verbringen. Sie tuckert mit ihrem alten VW Käfer, den sie sich eigens für ihre Landpartie bei Freunden geliehen hat, über die Dörfer des Wendlands, geht nachmittags reiten - und gärtnert. "Der Salat schmeckt viel besser, wenn man ihn höchstpersönlich gegen Nacktschnecken verteidigt hat", sagt Katia Schneider, die in Reinbek aufgewachsen ist, sich früher im elterlichen Garten aber nie besonders für Botanik interessiert hat - ebenso wie viele junge Großstädter, die jenseits des Ficus benjamini im Wohnzimmer kaum Grün sehen. "Jetzt lerne ich jeden Tag neue Pflanzen kennen - mit den entsprechenden Namen", sagt Katia Schneider.
Das können landverliebte Großstädter natürlich auch per Lektüre. Der Münsteraner Landwirtschaftsverlag verkauft von jeder neuen Ausgabe seines Magazins "Landlust" mehr als 800 000 Exemplare - es ist der größte Zeitschriftenerfolg der jüngeren Mediengeschichte. In den Artikeln geht es auch mal nur um Schnittlauch oder um Tomatensamen. Auch Titel wie "Hörzu Heimat" oder "Landhaus Living" bedienen erfolgreich den Traum vom Leben in Laura-Ashley-Blümchensesseln. Wenn auf RTL ein Bauer die Frau sucht, schalten Millionen ein, um abzuschalten. Bei Online-Spielen wie "Farmville" oder Agrar-Simulator machen mittlerweile schon mehr als 80 Millionen Möchtegern-Landwirte virtuell den Hof.
"Es gibt eben verschiedene Möglichkeiten, die Sehnsucht nach Natur zu stillen", sagt Trendforscherin Antje Schünemann. Manche Hamburger pachteten sich in den Vier- und Marschlanden ein Beet an, weil es sich auch nicht jeder leisten könne, ein Wochenenddomizil auf dem Land zu mieten oder gar zu kaufen. "Dafür gibt es mittlerweile Landhotels, die damit werben, dass sie in einem Funkloch liegen", sagt Schünemann und spricht von "archaischen Rückzugsräumen", in denen man endlich Ruhe habe vor Technik.
Auch Software-Entwickler Jörg Kröger und seine Freundin Katia schauen sonnabends zur besten Sendezeit lieber Fledermäuse als Fernsehen. Der Laptop mit der digitalen Verbindung zur Welt steht zwar auf dem Gartentisch, "aber eigentlich wollen wir hier das einfache Leben leben".
Es klingt nach einer neoromantischen Bewegung, die etwa alle zehn Jahre eine neue Hochzeit hat. In Deutschland ist es die zweite Welle, denn schon Ende der 80er-Jahre wurde die "neue Lust auf Land" herbeigeschrieben. Dabei ist die Weltliteratur von jeher voll davon. Schon der amerikanische Philosoph Henry David Thoreau zog Mitte des 19. Jahrhunderts in eine selbst gebaute Blockhütte am Walden Pond in den Wäldern Massachusetts und schrieb seine Erfahrungen auf.
In dieser Tradition sind gewissermaßen auch die zahlreichen Selbsterfahrungsbücher zu sehen, die in diesem Sommer den Buchmarkt bereichern. Eines der erfolgreichsten ist der selbstironische Bericht "Schöner Mist" (Ullstein, 8,95 Euro) der "Stern"-Autorin Irmgard Hochreither. Seit sechs Jahren zieht es die 56-Jährige, die während der Woche mit ihrem Lebenspartner in Hoheluft wohnt, wochenends ins Wendland. Über diesen Landstrich mit seinen 50 000 Einwohnern, verteilt über 400 Dörfer, der vor dem Mauerfall am Ende der bundesrepublikanischen Welt lag, habe sie nur gewusst, dass der Castor da regelmäßig durchrolle - aber dort Zeit zu verbringen? Unvorstellbar. "Was soll ich denn bitte in der Prärie?", hatte die Redakteurin empört gefragt, als ihr Lebenspartner ihr 2004 vorgeschlagen hatte, die Wochenenden künftig in der Provinz zu verbringen. Die Antwort, dass sie vielleicht ein Hochbeet anlegen könnte, überzeugte sie nicht ganz.
Jetzt plant die einst so überzeugte Großstädterin ein Hochbeet - im Garten des Fachwerk-Bauernhauses aus dem Jahr 1883, das sie mit ihrem Lebensgefährten in der 200-Einwohner-Ortschaft Simander gekauft hat. Sei sie früher ein "Wischmopp auf zwei Beinen, die Sagrotanflasche immer griffbereit" gewesen, entsorge sie jetzt auch mal mit bloßen Händen eine tote Maus. Die Hamburgerin, die gern nach Paris und New York reiste, sei das lebende Beispiel dafür, dass man für das Landleben kein "Natur-Talent" sein müsse. "Also, einen grünen Daumen hatte ich überhaupt nicht. Heute liebe ich es, Gemüse anzubauen und meine Kräuter nicht mehr im Bio-Supermarkt zu kaufen ", sagt Irmgard Hochreither, während sie auf das 8000 Quadratmeter große Getreidefeld blickt, das sich an ihr 3600 Quadratmeter großes Grundstück anschließt und zum Besitz gehört.
"Früher war es für mich unvorstellbar, meine Wochenenden nicht in der City zu verbringen", sagt die Autorin. Mittlerweile liebe sie das "Gummistiefel-Gefühl". Vor der zweistündigen Fahrt ins Wendland sei sie fast jedes Mal "so aufgeregt wie vor einem Date". Schon nach den ersten Kilometern auf der Autobahn fange die Erholung an.
Aus Hamburg und auch aus Berlin zieht es viele Kreative in das ländliche Dreieck zwischen diesen beiden Städten und Hannover, es hat sich längst eine Künstler-Enklave in diesem Landstrich gebildet. Der Schauspieler Heikko Deutschmann hat ein Domizil im Wendland, Adelsexperte Rolf Seelmann-Eggebert lebt dort, und auch Hamburgs Ex-Schulsenatorin Christa Goetsch verbringt dort gern die Wochenenden. Der Vater der Hamburger Schauspielerin Pheline Roggan ("Soul Kitchen") lebt dauerhaft im Wendland. Seine berühmte Tochter ist auf dem aktuellen Titel des Wendland-Magazins "Landluft" zu sehen, für das auch Irmgard Hochreither schreibt. "Diese Zeitschrift wurde ins Leben gerufen, um die hier in der Gegend vorhandene kreative Kraft zu Papier zu bringen und zu bündeln." Die Auflage liegt bei 40 000, und eine der großen Geschichten erschien unter der Überschrift "Bauernhäuser unter 80 000 Euro".
Tatsächlich gebe es im Wendland wahre "Perlen", sagt Immobilienexperte Harry Mellies aus Lüchow. "Sehr begehrt sind Resthöfe, also ehemalige Bauernhöfe ohne Ländereien." Zwischen 50 000 und 1,2 Millionen Euro koste ein solches Bauernhaus - "je nach Zustand". Die Nachfrage sei groß, vor allem unter Städtern. "Viele möchten ganz hierherziehen und suchen einen Ruhesitz", so Mellies, selbst aus Hamburg. Im Wendland, wo dort aufgewachsene junge Leute wegziehen, gebe es viel Leerstand. "Insofern steigen die Häuser wohl langfristig nicht im Wert."
Dafür steige der Wert des Lebens auf dem Land, sagt Irmgard Hochreither, während sie die Blumenkübel auf ihrer Terrasse bepflanzt und Hündin Luna ihr nicht von der Seite weicht: "Das Wendland und ich - das war Liebe auf den ersten Blick." Das trifft auch auf Katia Schneider zu, die sagt: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass es hier jemandem nicht gefällt."
Nur Roberta von nebenan meckert.