Morgen sagt Kurnaz vor einem Congress-Ausschuss in Washington aus. In Bremen lebt er jetzt als Publizist.

Bremen. Der Bart ist ab - und das lange Haupthaar ebenso. Auf den ersten Blick ist Murat Kurnaz (26) nicht wiederzuerkennen. Wovon sich auch die Abgeordneten des US-Kongresses überzeugen können: Morgen sagt der gebürtige Bremer mit türkischem Pass vor dem Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten aus. Per Videokonferenz, live von der Hansestadt nach Washington geschaltet. Thema: die 54 Monate seiner Haft im Gefangenenlager Guantanamo auf Kuba. Ohne Anklage, ohne jegliche rechtliche Grundlage

"Es war die Hölle", sagt der 26-jährige Deutschtürke. "Man hat mir fünfeinhalb Jahre meines Lebens gestohlen." Sachlich formuliert er das, ruhig, ohne Gefühlswallung. Hat er heute noch Albträume? "Nein, zum Glück träume ich von schönen Dingen." Nicht nur diese Behauptung sorgt für Erstaunen beim Treffen mit einem Mann, der in die Mühlen der Terroristenjäger geriet, eine Schreckenszeit erlebte, letztlich nach Intervention von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kleinlaut freigelassen wurde und heute um ein alltägliches Leben bemüht ist. Dank seines veränderten Aussehens dreht sich beim Bummel durch Bischofsnadel, über den Domshof und durch die Böttcherstraße niemand um.

Und was ist mit dem roten Mazda RX-8 (230 PS, tiefer gelegt, doppelstöckiger Spoiler), mit dem Kurnaz nach seiner Entlassung im August 2006 durch seine Heimatstadt brauste? Für manche Medien ein gefundenes Fressen... Er fährt den Sportwagen immer noch, ebenso wie ein 187 PS starkes Motorrad. Sein Hobby, damals wie heute. "Die Mühe eines tiefer gehenden Gesprächs hat sich kaum einer gemacht", sagt der Deutschtürke bei einem Stopp am Roland. "Haare, Bart und Cabrio - nur die Äußerlichkeiten zählten."

Detailliert berichtet er vom Beginn der Tragödie. Seinem tiefen Glauben, seinem Kontakt zu der eigentlich unpolitischen islamischen Hilfsgruppe Jama'at al-Tablighi, die sich um gestrauchelte, obdachlose oder drogenabhängige Jugendliche in aller Welt kümmert. Seiner spontanen Reise ins Hauptquartier der Organisation in Pakistan, einer Islamschule, folgten Verhaftung, die Übergabe (wohl für 3000 Dollar Handgeld) an amerikanische Fahnder, drei Monate Haft und Folter in Afghanistan, schließlich der Abtransport nach Guantanamo. Mit Ausnahme des Bremer Bürgermeisters Jens Böhrnsen (SPD) habe kein Politiker Bedauern ausgedrückt.

Einkehr in ein Bistro am Marktplatz. Äußerlich unbewegt zeichnet Kurnaz die verschiedenen Baracken des Lagers auf einen Notizblock. Dem Kongress-Ausschuss in Washington wird er morgen von toten Mithäftlingen, von Folter durch Kälte, Wärme, Hell und Dunkel Bericht erstatten. Und von siebenköpfigen Schlägertrupps mit Motorradhelmen, die in den Isolationshäusern auftraten, erst Pfefferspray, danach die Fäuste zum Einsatz brachten. Zwischenzeitlich, so sein Vorwurf, hätten Ärzte kontrolliert, ob die Häftlinge "weiter belastbar" seien.

Was unvorstellbar klingt, will Murat Kurnaz in alle Welt hinaustragen: "Darum kämpfe ich." In seinem Buch "Fünf Jahre meines Lebens", das bisher in elf Sprachen übersetzt wurde. In einem Kinostreifen, dessen Drehbuch gerade geschrieben wird. In einem Dokumentarfilm für das deutsche Fernsehen. Und bei Veranstaltungen der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, auf denen Kurnaz und andere ehemalige Guantanamo-Häftlinge Straflager und Unrecht anprangern.

Parallel dazu prüft Kurnaz' Bremer Anwalt Bernhard Docke, einer der Motoren der Freilassung, eine Schadenersatzklage gegen die Bundesrepublik Deutschland. In den USA ist dies aufgrund einer Gesetzesänderung nicht möglich.

Kurnaz atmet tief durch, lächelt wieder, ordert einen Fischeintopf und eine Cola light, kehrt zum Alltag zurück. Der Einsatz für ein Stadtteilprojekt ist seit Monaten beendet. Er wohnt wieder in seinem Jugendzimmer im Souterrain des Elternhauses in Bremen-Hemelingen, hat neue Freunde gewonnen, besucht nicht mehr die alte, sondern eine neue Moschee, betreibt weiterhin Kampfsport im Verein, war just mit dem Motorradklub in Hamburg, habe "als Publizist" alle Hände voll zu tun, werde dauerhaft in Bremen bleiben.

Noch lange im Elternhaus? Seine Ehefrau mit Wohnsitz in der Türkei ließ sich während der Lagerjahre scheiden. Ein Wiedersehen hat es nicht gegeben. Und ein neues Glück? Es bleibt die einzige Frage an diesem Nachmittag, der Murat Kurnaz ausweicht.