Bestattungen: 9000 Menschen pro Jahr lassen ihre Urne der See übergeben

Strande. Kirchengeläut gibt es nicht, dafür schlägt die Schiffsglocke acht Glasen - Wachwechsel: "Otto Krüger*, ein kurzes Stück auf deiner letzten Reise haben wir dich begleitet", sagt Kapitän Tony Pöll (59). Er steht auf dem Achterdeck der "Mira" neben der blumengeschmückten Urne, spricht von Pflichterfüllung, Geselligkeit und Geborgenheit im Leben des Toten. Langsam lässt Pöll das Gefäß mit der Asche des 84-Jährigen zu Wasser. Der Decksmann macht ein Polaroidfoto. Einen Augenblick noch tanzen die gelben Rosen auf den Wellen, dann werden sie in die Tiefe gezogen. "Gute Reise", ruft der Kapitän in den Wind.

54 Grad 29 Minuten Nord, 10 Grad 20 Minuten Ost: Das ist der Friedhof der Seeleute in der Ostsee vor Kiel. "Man braucht einen Ort, um sich zu erinnern", sagt Seemann Pöll. Jedes Jahr im September gibt es für die Angehörigen Gedenkfahrten. Die Urne wird dann nicht mehr da sein, in 24 Stunden löst das Material sich auf, gibt die Asche frei. Ingrid Bergmann und Maria Callas haben sich diese Freiheit im Tod gewünscht - und jetzt Otto Krüger.

Seebestattungen liegen im Trend. "9000 sind es jedes Jahr", sagt Rolf Lichtner, Geschäftsführer des Bundesverbands Deutscher Bestatter. "Tendenz steigend." Der größte der bundesweit knapp 20 Anbieter ist die Deutsche Seebestattungsgenossenschaft in Kiel und Pinneberg. Der Zusammenschluss von 300 Bestattern hat drei eigene Schiffe in Travemünde, Büsum und in Strande - die "Mira".

Ganz in gediegenem Marineblau gehalten, liegt sie im Hafen. Auf den ersten Blick ein kleines Passagierschiff, nur ein Austritt am Heck und eine spezielle Halterung für die Urnen lassen auf den Spezialauftrag schließen. Kapitän Pöll macht seit 13 Jahren Seebestattungen, bis zu drei Beisetzungen am Tag.

45 Minuten fährt die "Mira" mit Angehörigen und Urne zur letzten Reise aufs Meer hinaus. Bis zu zwölf Personen kann sie mitnehmen. Es gibt einen Salon mit bequemen Sitzpolstern, die Trauergesellschaft kann Kaffee und Kuchen oder einen Imbiss buchen. "Es kommen meist nur die engsten Verwandten. Die eigentliche Trauerfeier war meistens schon an Land", sagt der Kapitän. Zur Bestattung von Otto Krüger ist niemand gekommen - "ein Krankheitsfall".

Aber der Seebestatter hat auch schon ganz andere Beisetzungen erlebt, zum Beispiel als eine Familie mit einem ganzen Salon-Orchester anrückte und eine große Tafel aufbauen ließ. Oder der U-Boot-Kommandant, der testamentarisch verfügt hatte, dass seine zwölf Kameraden ihn auf der letzten Fahrt begleiten - und nicht nüchtern von Bord gehen sollten. Einmal war ein kleines Mädchen dabei, das seine Schwimmflügel mitgebracht hatte, "weil der Opa nicht schwimmen konnte". Die tanzten dann orangefarben auf den Wellen. "Manchmal ist es auch sehr ergreifend. Gerade wenn jung gestorben wurde", sagt Pöll.

Formale Voraussetzung für eine Seebestattung ist eine Sondergenehmigung der Heimatgemeinde. "Man muss die Verbundenheit mit dem Meer unter Beweis stellen", sagt Britta Paulsen von der Seebestattungsgenossenschaft. Das werde aber oft sehr weit gefasst, viele Verstorbene hätten im Binnenland gelebt, manche in Süddeutschland. "Viele wollen den Angehörigen die Grabpflege ersparen", sagt Paulsen. Kosten samt Einäscherung: 3000 bis 4000 Euro.

An Bord der "Mira" steht der Kapitän inzwischen wieder am Steuer, das Schiff umrundet noch einmal die Stelle, an der die Urne versank. Während der Decksmann die Flagge hisst, ertönt zum Abschied von Otto Krüger dreimal lang das Nebelhorn, dann nimmt die Pöll wieder Kurs auf Strande. Mit ernstem Gesicht trägt er die Position des Seemannsgrabs in eine Karte ein.

Gefühle, sagt der Kapitän, versuche er möglichst fern zu halten. "Eine Seebestattung ist ein symbolischer Akt." Für sich selbst kann er sich das auch vorstellen, sagt er und guckt übers Meer. "Irgendwann trifft man sich hinter dem Horizont wieder."

*Name geändert