Ohne das Verstehen von Texten geht gar nichts. Deutschlands größtes Förderprojekt schafft Abhilfe. Und das mit viel Spaß.
Norderstedt. Keno (11) und Torben (11) haben sich einen Text über Robinson Crusoe vorgenommen, mit dem Piraten Jack Sparrow sind sie schon durch. "Schon längst", sagt Keno, der auch in seiner Freizeit gern liest. An diesem Morgen bearbeiten die beiden Jungs einen Text über den gestrandeten Helden. In der 5b der Realschule Harksheide in Norderstedt ist Lesestunde. "Niemanden zurücklassen - Lesen macht stark" (NZL) heißt das schleswig-holsteinische Projekt, an dem bereits 20 000 Schüler an 143 Schulen teilnehmen. Bei "Lesen macht stark" arbeiten die Schüler mit speziellen Lese-Arbeitsmappen und bekommen Extra-Leseunterricht.
Das Projekt zur Förderung der Lesekompetenz an allen weiterführenden Schulen (außer den Gymnasien) soll noch weiter ausgebaut werden. "Lesen ist die Grundvoraussetzung für das Lernen und eine Schlüsselqualifikation. Es ist auch die zentrale Voraussetzung für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben", betont Projektleiter Thomas Riecke-Baulecke, Leiter des Instituts für Qualitätsentwicklung an Schulen in Schleswig-Holstein (IQSH). Unterstützung bekommt er vom Bildungsforscher Manfred Prenzel, Leiter des deutschen PISA-Konsortiums, der Leseförderung nicht nur in Deutsch, sondern in allen Fächern fordert.
"Es ist schon jetzt deutschlandweit das größte Leseprojekt", sagt Riecke-Baulecke, "und wir werden die Initiative im Herbst auf alle 250 weiterführenden Schulen ausdehnen. Dann profitieren mindestens 40 000 Schüler von der 5. bis zur 9. Klasse davon." Das Bildungsministerium hat für das kommende Schuljahr 50 Lehrerstellen zusätzlich für die Leseförderung bewilligt.
Dass die Stärkung der Lesekompetenz dringend nötig ist, verhehlt Riecke-Baulecke nicht - auch wenn Schleswig-Holstein bei PISA deutlich besser abgeschnitten hat als Hamburg. Etwa ein Viertel der Schüler im nördlichsten Bundesland verfügt nicht über ausreichende Basisfähigkeiten beim Lesen, sind sogenannte Risikoschüler. "Das heißt, sie können den Sinn eines Textes nicht oder kaum erfassen", so der Projektleiter. Ziel: Ihre Anzahl soll um ein Drittel reduziert werden.
"Der Erfolg gibt uns recht", versichert der IQSH-Chef, "die Ergebnisse sind sehr positiv." Bei fast allen teilnehmenden NZL-Schulen habe die Lesekompetenz der Schüler deutlich zugenommen. Besonders profitiert hätten Kinder mit Migrationshintergrund, die ihren Leistungsrückstand gegenüber den deutschen Schülern fast aufgeholt hätten.
Barbara Schirrmacher, Leiterin der Realschule Harksheide, hat die Leseförderung an ihre Schule geholt, "obwohl wir keine ausgesprochene Problemschule sind", wie sie sagt. Lesen könne jeder, "aber aus Sachtexten die Informationen zu entnehmen, das muss trainiert werden".
Brigitte Schüngel, die seit 1978 an der Schule ist, sammelt die Mappen ihrer 5b regelmäßig ein und sieht die Arbeitsbögen durch. "Durchlavieren geht nicht", sagt die Deutschlehrerin, "das kriege ich mit." Besonders auf die Kinder, die zu Hause nicht Deutsch sprechen, müssten die Lehrer achten.
Äußerst positive Erfahrungen mit dem Leseprojekt hat auch Gerhard Lühr gemacht, Direktor der Hauptschule Falkenberg in Norderstedt, die seit August 2006 am NZL-Projekt teilnimmt. "Ich habe zum ersten Mal seit Jahren wieder einen Schüler mit einem Buch auf dem Schulhof gesehen", sagt er lächelnd. "Ich glaube, dass wir schon ganz viele Schüler motiviert haben." Der Anteil der Schüler mit ausländischen Wurzeln beträgt an der Falkenberg-Schule 40 Prozent. "Wir nehmen jede Förderung, die wir kriegen können", sagt Lühr und beschreibt die nicht unproblematische Schülerschaft folgendermaßen: "Eltern, die pädagogisches Interesse haben, haben ihre Kinder nicht hier." Deshalb fühlen er und seine Kollegen sich umso mehr in der Pflicht, für ihre 225 Schüler alles herauszuholen, was möglich ist. "Die Schüler zum Lesen motivieren, ihnen nahebringen, dass ein Buch interessant sein kann, es kann auch eine Zeitschrift oder eine Zeitung sein", beschreibt der Schulleiter die Hoffnungen, die er in "Lesen macht stark" setzt.
Marlit Schrader ist an der Ganztagsschule verantwortlich für das NZL-Projekt. Die 30-Jährige weiß, dass viel Motivation nötig ist, um ihre Schüler zum Lesen zu animieren, von denen viele lieber am Computer abhängen: "Von zwölf haben sechs mit Lesen nichts am Hut", sagt sie. "Denen muss ich das so aufbereiten, dass sie das Lesen richtig cool finden." Offenbar schafft sie das: "Die Arbeit mit den Lesen-macht-stark-Ordnern macht den Schülern viel Spaß", versichert sie. Bei Michael (15) und Yasin (15) jedenfalls hat ihr Einsatz gefruchtet. Beide wollen den Hauptschulabschluss machen und peilen den Realschulabschluss an.
Damit nicht nur die Lesekompetenz, sondern auch die Rechenleistungen steigen, plant das IQSH schon die nächste Offensive. "Wir wollen eine zweite große Säule aufbauen", kündigt Riecke-Baulecke an: "Mathe macht schlau" soll das Förderprojekt heißen und noch in diesem Jahr starten.