Bremen. Tausende von Opfern, viele mutmaßliche Täter: Eine Studie zum sexuellen Missbrauch hat die evangelische Kirche schwer getroffen - bislang galt dies als Problem der Katholiken. Oder ist das immer noch so?

Trotz der Studie zu sexualisierter Gewalt hat die evangelische Kirche nach Einschätzung von Betroffenen das Problem noch nicht für sich erkannt. „Und wenn man ein Problem nicht erkennt, dann kann man es auch nicht lösen“, sagte Katharina Kracht, Vertreterin der Betroffenen und Mitglied im Beirat des Forschungsverbundes, dem Bremer „Weser-Kurier“ (Freitag). „Mir ist ganz wichtig zu sagen, dass die Kirche nicht nur in der Vergangenheit geschlafen hat, sondern mindestens auf Ebene der Landeskirchen und häufig auf der der Diakonie noch immer schläft.“

Mindestens 2225 Betroffene und 1259 mutmaßliche Täter hatte eine Untersuchung zu sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Diakonie am Donnerstag für die vergangenen Jahrzehnte dokumentiert. Von der „Spitze der Spitze des Eisbergs“ sprach Studienleiter Martin Wazlawik von der Hochschule Hannover am Donnerstag. Die ermittelten Fallzahlen basieren auf Akten der Landeskirchen und der Diakonie, außerdem flossen den Landeskirchen und Diakonischen Werken bekannte Fälle ein. Die Wissenschaftler konnten aber nicht alle Personalakten der Pfarrer und Diakone auswerten, sondern in erster Linie Disziplinarakten.

„Auf EKD-Ebene hat es in den letzten Jahren viel Aktivität gegeben, aber die übersetzt sich eben nicht so automatisch auf die Ebene der Landeskirchen“, erklärte Kracht. „Ein großes Problem ist, dass die evangelische Kirche immer noch behauptet, dass das Problem des Missbrauchs eher ein „katholisches Problem“ sei.“

Kracht betonte: „Ich fühle mich als Betroffene heute noch weniger ernst genommen, als ich das 2015 tat, als ich mich bei meiner Landeskirche gemeldet habe. Da hatte ich noch großes Vertrauen.“ Dann habe sie „viele sehr anstrengende und negative Erfahrungen machen müssen“. Die evangelische Kirche habe kein Konzept, wie sie mit Betroffenen umgehe, die wirklich zeigen wollten, was passiert sei. Betroffene fühlten sich „unempathisch und unprofessionell behandelt“.

Sie selbst habe in ihrem Fall jahrelang auf Aufklärung warten müssen. Kracht war in den in den 1980er und 1990er Jahren von einem evangelischen Pastor im niedersächsischen Nenndorf bei Hamburg schwer sexuell missbraucht wurde. Wie sich erst spät herausstellte, hatte der 2013 gestorbene Pfarrer sowohl in Nenndorf als auch in seiner vorigen Kirchengemeinde in Wolfsburg weitere Mädchen missbraucht.