Lüneburg. Historikerpaar gibt auf nur 150 Seiten Einblick in 1000 Jahre Stadtgeschichte und stößt dabei auf allerhand Überraschendes.
Es gibt in Lüneburgs Stadtgeschichte einen Moment, der zum Schlüsselereignis – manche sagen auch Schicksalsstunde – geworden ist: Die Eroberung der Burg auf dem Kalkberg im Jahr 1371 und ihre Verteidigung in der sogenannten Ursulanacht im Herbst desselben Jahres. In dieser Nacht befreien sich die Bewohner der Stadt von der Herrschaft der Herzöge und legen fortan großen Wert auf ihre Autonomie als Bürgerstadt. So großen, dass von der einstigen Burg praktisch nichts mehr übrig bleibt, kein Bild, kein Plan, keine Beschreibung. Im kollektiven Gedächtnis der Lüneburger existiert sie in erster Linie durch ihre Zerstörung.
„Das ist bemerkenswert. Die Bürger wollten von der Landesherrschaft nichts mehr wissen“, sagt Prof. Dr. Heike Düselder. So richtig klar sei ihr diese fast vollständige Tilgung des Herrschaftssymbols erst bei der Recherche zum Buch geworden. Gemeinsam mit ihrem Mann Christoph Reinders-Düselder, ebenfalls Historiker, hat die Direktorin des Museum Lüneburg eine „Kleine Stadtgeschichte“ verfasst.
Der Leser kann die großen Linien der Stadtentwicklung gut erkennen
Auf gerade einmal 150 Seiten gelingt es ihnen, viele einzelne Ereignisse aufzugreifen und miteinander in Verbindung zu setzen, sodass für die Leser die großen Linien der Entwicklung der Stadt gut zu erkennen und verstehen sind.
Statt für eine rein chronologische Darstellung der geschichtlichen Ereignisse entschieden sich die Autoren für eine Einteilung in Themenschwerpunkte. Zudem gibt es Kästen mit Hintergründen und zahlreiche Abbildungen. „Es ist ein Buch zum Stöbern, jeder kann zuerst das lesen, was ihn am meisten interessiert“, sagt Christoph Reinders-Düselder. So nähern sie sich auf jeweils etwa zehn Seiten zum Beispiel der Topografie Lüneburgs, der Stadtpolitik, den Kirchen und Stiftungen, dem Bildungswesen und der Stadtökologie. Andere Kapitel sind den Menschen und dem Charakter der Stadt, den großen Seuchen oder den Sülfmeistern, Handwerkern und Unternehmern gewidmet.
Schauspieltruppen brachten immer wieder neue Ideen mit in die Stadt
Dabei werden Kontinuitäten ebenso sichtbar wie Brüche, auch Konflikte und schwierige Zeiten tragen zum Wandel der Stadt bei. Dass das Salz im Untergrund und die Saline der Stadt zu Reichtum verholfen hat, dürfte den meisten Lesern bereits bekannt sein. Dass Lüneburg, heute Heimat für fünf Museen und drei Kirchen, bereits seit Jahrhunderten eine Kulturstadt ist, ist im öffentlichen Bewusstsein dagegen nicht so verankert.
„Das war in diesem Ausmaß auch für mich eine neue Entdeckung“, sagt der Historiker und erzählt vom Theaterleben um 1500 und den Schauspieltruppen, die immer wieder neue Ideen mit in die Stadt brachten. Solche Impulse durch die Bewohner finden sich zahlreich in dem kleinen Buch. „Uns ging es um die Menschen in dieser Stadt, die Geschichte gestalten und Geschichte erleben. Nicht nur einzelne Schicksale, sondern auch die Abhängigkeiten der Menschen von den sie umgebenen Lebenswelten haben uns geleitet.“
Auch eine Linie des Umeinander-Kümmerns zieht sich durch die Lüneburger Historie
Dabei zeigte sich, dass das Selbstverständnis der Stadtbewohner von einst bis in die Gegenwart reicht. So zieht sich eine Linie des Umeinander-Kümmerns durch die Lüneburger Historie. Einige der Stiftungen, die vor Jahrhunderten gegründet wurde, gibt es noch heute.
Auch die Sorge um die Bausubstanz in der Altstadt und der Wille, diese zu erhalten, geht maßgeblich auf das Engagement privater Initiativen zurück. Das einst vom Michaeliskloster ausgehende Schulwesen brachte immer neue Lernorte hervor, heute ist die Leuphana Universität ein Anziehungspunkt für junge Menschen und Wissenschaftler aus vielen Ländern.
Ein besonderes Anliegen ist dem Historikerpaar die Erinnerungskultur. „Wir sind der Meinung, dass man aus der Geschichte lernen kann und muss“, sagt Christoph Reinders-Düselder. So geht es in ihrem Buch auch darum, wie die Lüneburger mit ihren Kriegerdenkmälern und umstrittenen Figuren wie der als „Heldenmädchen“ bekannten Johanna Stegen umgehen.
Der intensive Diskurs um Erinnerungskultur hebe Lüneburg von anderen Städten ab
in neuer Gedenkort an der Stelle, an der einst die Synagoge stand, hat in den vergangenen Jahren eine intensive Diskussion um die örtliche Erinnerungskultur entfacht. „Dieser intensiver Diskurs hebt Lüneburg von anderen Städten ab“, sagt Heike Düselder. Das Buch greift solche aktuellen Ansätze mit auf, so soll es auch jüngere Leser ansprechen.
Die letzte Stadtgeschichte für Lüneburg stammt aus dem Jahr 1933. Fast hundert Jahre später wird manches Detail der Geschichte, nicht nur aus der Zeit des Nationalsozialismus, ganz anders bewertet und gewichtet. Eineinhalb Jahre haben die beiden an dem Buch gearbeitet, jeder hat sechs Kapitel verfasst. Bereits vor etlichen Jahren gab es ähnliche Pläne für einen historischen Überblick zu Oldenburg, dort lebte das Paar damals. Doch dann kam der Umzug nach Lüneburg dazwischen.
Die größte Herausforderung: Als Paar gemeinsam ein Buch zu schreiben
„Nach zehn Jahren in Lüneburg haben wir uns zugetraut, diese kleine Stadtgeschichte zu schreiben“, sagt Heike Düselder, und ihr Mann ergänzt: „Man kann eigentlich ziemlich schnell Lüneburger werden, die Stadt macht es ihren Neubewohnern leicht, sich wohl zu fühlen.“ Außerdem sei sie mit ihren mehr als 1000 Denkmälern für Historiker eine wahre Fundgrube, meint der Geschichtswissenschaftler. „Lüneburg bietet auf jeden Fall auch genug Stoff für eine große Stadtgeschichte. Auch im Archiv lagern noch viele Schätze.“
Und da in ihrem Buch aus konzeptionellen Gründen ziemlich vieles aus der Recherche nur angerissen oder auch ganz rausgelassen werden musste, gibt es entsprechende Ideen für ein umfangreicheres Werk bereits. Dann sollen noch weitere Autoren mit ins Boot geholt werden. Denn die Arbeit an der „Kleinen Stadtgeschichte“ war zwar in mehrerer Hinsicht herausfordernd. So musste zum Beispiel ein Stil gefunden werden, der interessierte Laien anspricht und zugleich einen gewissen Anspruch der Fachwelt erfüllt, und zu lang geratene Kapitel mussten deutlich gekürzt werden.
Die größte Herausforderung war jedoch die Zusammenarbeit als Ehepaar, erzählt Christoph Reinders-Düseder. „Wir waren nicht immer einer Meinung und in einer Ehe ist das immer auch eine Sache der Emotionalität. Es war ein Prozess, dieses gemeinsame Werk zu erarbeiten, aber im Ergebnis ist es uns zum Glück ganz gut gelungen.“
Das Buch „Lüneburg – Kleine Stadtgeschichte“ ist im Regensburger Verlag Friedrich Pustet erschienen. Es zählt zu einer Reihe, die Ausgaben im selben Format für zahlreiche weitere Städte umfasst. Das Buch (ISBN: 978-3-7917-3311-1) ist im Buchhandel und im Museum Lüneburg erhältlich. Es kostet 14,95 Euro.