Borkum. Vor Borkum schlummern 60 Milliarden Kubikmeter Gas unter dem Meer. Alle waren gegen die Förderung – doch dann kam der Ukraine-Krieg.
Die Sonne steht schon tief am Horizont, als Jürgen Hömberg in seinem königsblauen Kapuzenpulli mit der Aufschrift „Nabu“ mit ausgestrecktem Finger in den Nebel weist, der sich über dem schier endlos wirkenden Watt vor Borkum erstreckt. Von der Bar an der Strandpromenade strömt leise Musik herüber an den Strand. Touristen sitzen in ihren Liegestühlen und trinken Aperol Spritz. Hömberg, der „wegen der Liebe“ nun seit mehr als 20 Jahren auf der größten der Ostfriesischen Inseln lebt und sich ehrenamtlich für den Naturschutzbund Deutschland (Nabu) engagiert, senkt den Kopf. „Wir wissen nicht, wie sie sich entscheiden. Stimmen sie zu, stimmen sie nicht zu? Es ist diese Ungewissheit, die es so schwierig macht“, sagt der 57-Jährige und zuckt mit den Schultern.
Mit der „Ungewissheit“, von der Hömberg spricht, ist er nicht allein. Zahlreichen Inselbewohnern und Umweltschützern geht es so, und sie ist keineswegs neu. Sie schien sogar fast beseitigt. Doch seit dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar werden energiepolitisch auch in Niedersachsen die Karten neu gemischt.
Es geht um das Gasfeld „N05-A“, 20 Kilometer vor der Insel und damit in unmittelbarer Nähe zum Unesco-Weltnaturerbe Wattenmeer. Das niederländische Unternehmen One-Dyas, das nach eigenen Angaben größte private Verwertungs- und Produktionsunternehmen der Niederlande, will genau dort eine Erdgasplattform errichten. Da das Fördergebiet sowohl niederländisches als auch deutsches Territorium berührt, bedarf es neben der bereits erfolgten niederländischen auch der Zustimmung der deutschen Seite. Genauer gesagt derer des niedersächsischen Landesamts für Bergbau, Energie und Geologie (LBEG). Und das wird nur tätig, weil die Regierung in Hannover derzeit eine 180-Grad-Wende vollzieht.
SPD und CDU wollten Erdgasförderung vor Borkum verhindern
Als „völlig inakzeptabel“ und „aus der Zeit gefallen“, betitelte der Vorsitzende des Umweltausschusses, Axel Miesner (CDU), das Vorhaben noch im vergangenen Oktober. Weil das Wattenmeer einen „Schutzstatus“ genieße, werde die CDU als Koalitionspartner „alles tun, damit eine Erdgasförderung einschließlich vorbereitender Arbeiten ausgeschlossen wird“, so Miesner. Ähnlich entschlossen klang es beim Koalitionspartner SPD: In einer Zeit, in der umfassend über „Klimaschutz und Klimaneutralität“ diskutiert werde, passe das Projekt einfach „nicht in die Zeit“, sagte Umweltminister Olaf Lies (SPD). In einem gemeinsamen Antrag hatten SPD und CDU noch im vergangenen Jahr den Landtag aufgefordert, sich dem Vorhaben entgegenzustellen.
Umso überraschender erscheint die plötzliche Einigung auf eine gemeinsame Erklärung zwischen One-Dyas und der niedersächsischen Landesregierung, wie Wirtschaftsminister Bernd Althusmann (CDU) sie am 20. April 2022 verkündete. Ein gemeinsames Eckpunktepapier gebe „einen sinnvollen Rahmen für die Erdgasförderung in deutschen Gewässern“, so Althusmann (CDU). Der Entwurf sehe unter anderem vor, dass „eine Fördermenge von bis zu 60 Milliarden Kubikmetern Gas (…) zu gleichen Anteilen für die Niederlande wie für Deutschland“ gefördert werden solle. Niedersachsen sei somit gemeinsam mit den Niederlanden „der Eckpfeiler der deutschen und der europäischen Energieversorgung, was den Gasmarkt betrifft“, betonte Althusmann.
Auch Umweltminister Olaf Lies (SPD) hat längst umgedacht. „Die Lage ist eine völlig neue. Vor dem Hintergrund, dass Wladimir Putin jetzt ankündigt, russisches Gas nur noch gegen Rubel verkaufen zu wollen, ist der Druck noch einmal gestiegen, unsere Bezugsquellen zügig zu diversifizieren“, sagte er dem Abendblatt. Im Hinblick darauf, dass die Hälfte der Gasbezüge Europas aus Russland stammen, müsse man gesamteuropäisch eine neue Strategie entwickeln und „bisherige Haltungen neu bewerten und gegebenenfalls anpassen“, so Lies. Das Projekt von One Dyas könne dabei „ein Teil der Lösung sein“. Auch wenn es beim „konsequenten Ausbau der erneuerbaren Energien“ bleibe und die Klimaziele der Bundesregierung aufgrund des Ukraine-Krieges nicht einfach über den Haufen geworfen werden dürften, stelle Erdgas durchaus eine Übergangslösung „auf dem Weg dorthin“ dar.
Wirtschaftsminister Althusmann äußerte sich ähnlich: „Nahezu alle energiepolitischen Gewissheiten sind seit dem 24. Februar über den Haufen geworfen. Eine dauerhafte Störung der Gasversorgung aufgrund des aktuellen Konflikts zwischen Russland und der Ukraine wird zu gravierenden wirtschaftlichen Schäden und zur Beeinträchtigung der Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger Niedersachsens, Deutschlands und Europas führen. Die Erdgasförderung aus heimischen Vorkommen ist ein Baustein, um etwa die Gasabhängigkeit von Russland zu verringern.“
Mit 5,6 Milliarden Kubikmeter Erdgasförderung im Jahr 2020 ist Niedersachsen „das Zentrum der deutschen Erdgasförderung“, wie es auf der Internetseite der Landesregierung heißt. das entspricht 97 Prozent der deutschen Erdgasproduktion.
Im Hinblick auf die umwelttechnischen Bedenken der schwarz-roten Landesregierung, die noch zur Verhinderung des Projekts angeführt worden waren, sowie auf die erst im Oktober beschlossene Änderung des Klimaschutzgesetzes erscheint die Kehrtwende fragwürdig. Das meint zumindest Jürgen Hömberg und ist mit seiner Ansicht nicht allein. Neben der Landtagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen lehnen zahlreiche Umweltschützer und Bürgerinitiativen wie etwa „Saubere Luft Ostfriesland“ das Projekt entschieden ab.
Acht Friesische Inseln gegen Erdgasprojekt
Zudem spricht sich eine Initiative der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister von acht Inseln, darunter die drei deutschen Norderney, Juist und Borkum sowie die fünf niederländischen Texel, Vlieland, Terschelling, Ameland und Schiermonnikoog in einem offenen Brief an die niederländische Regierung klar gegen das Vorhaben aus. Darin heißt es: „Wir sollten keine neuen Bohrungen auf der Suche nach einer alten, umweltschädlichen Energiequelle vornehmen. […] Der Bau einer Bohrinsel in der Nähe des Wattenmeeres gefährdet empfindliche Ökosysteme und die Lebensgrundlage der Menschen, die dort leben.“
Einer der Unterzeichner ist Jürgen Akkermann. Der gebürtige Borkumer ist seit 2019 Bürgermeister seiner Heimatinsel und nach seiner Tätigkeit bei der Deutschen Bahn im Ruhrgebiet für den Job zurück auf die Insel gezogen. An einem Mittwochmorgen sitzt Akkermann in seinem Büro, gleich neben dem historischen Ratssaal mit den vielen bunten Fensterscheiben und der dunklen Holzvertäfelung. Von der Decke hängt ein historischer Einmaster aus Metall. Akkermann fühlt sich wohl in diesem etwas aus der Zeit gefallenen Ambiente. Er mag es gerne ruhig und ohne Trubel.
Spricht man den 55-Jährigen auf die Bohrplattform vor „seiner“ Insel an, wird er emotional: „Die Bohrinsel liegt einfach viel zu nah am Nationalpark Wattenmeer. Die Gefahr, dass verunreinigtes Wasser auch in das Wattenmeer gelangt, ist aufgrund der Strömungen einfach zu groß. Das kann man einfach nicht akzeptieren, ganz abgesehen von der Horizontverschmutzung.“ Womit Akkermann auf die zahlreichen Bohrtürme und Windräder hinweist, wie den Offshore-Windpark „Riffgat“ oder den Energiepark Eemshaven, die bereits den Horizont der ausschließlich vom Tourismus abhängigen Insel bedecken. Begibt man sich mit der Fähre von Emden aus nach Borkum, erhält man einen guten Eindruck davon, was Akkermann meint. Dicht an dicht stehen hier Windräder und sorgen für neuen Strom.
Ebenso beunruhigen den Bürgermeister potenzielle Erdbeben, wie es sie immer wieder im Zusammenhang mit Erdgasbohrungen in den Niederlanden gibt sowie die dadurch entstehende Gefahr der „Absackung“ der Insel. Bei einer Insel, deren Fundament auf Sand fußt, könne dies weitreichende Folgen haben, die derzeit „niemand abschätzen“ könne, sagt der 55-Jährige besorgt, während er auf seinem Schreibtisch nach den Landkarten mit den ausgewiesenen Naturschutzgebieten sucht, um seine Mahnungen zu bekräftigen.
In Amsterdam ist man hingegen anderer Ansicht. One-Dyas, das neben dem Hauptgeschäftsgebiet Nordsee auch in Gabun in Zentralafrika nach Gas- und Ölvorkommen sucht und in einem gläsernen, futuristisch anmutenden Bürogebäude sitzt, hält das Projekt sogar für umweltfreundlich: „Heimisches Erdgas hat einen 30 Prozent geringeren CO2-Abdruck als importiertes Erdgas“, sagt Sprecherin Corine Toussaint. „Dadurch, dass die Plattform ,N05-A‘ mit dem deutschen Windpark ,Riffgat‘ verbunden wird, erwarten wir eine nahezu CO2-neutrale Produktion.“ Dies mache die niedersächsische Wirtschaft unabhängiger von Gasimporten und verleihe ihr auch beim Klimaschutz einen Standortvorteil, so die Sprecherin.
One-Dyas sieht keine Auswirkungen auf die Natur
Auch die Sorge vor Umweltschäden weist das niederländische Privatunternehmen klar zurück und verweist auf das Ergebnis der Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP), worin es zusammenfassend heißt: „Es gibt keine signifikanten Auswirkungen auf (geschützte) Gebiete und Arten.“
Da die Plattform an die bestehende Gasinfrastruktur angeschlossen werde, bedeute dies sogar „weniger Eingriffe in die Natur“, betont One-Dyas. Zudem werde „durch den Einbau eines Aktivkohlefilters“ die Verunreinigung des Meerwassers durch das Produktionswasser begrenzt, so Toussaint.
Doch auch wenn die Bewertung bezüglich möglicher Auswirkungen auf die Umwelt laut UVP „neutral“ ausfällt, seien die Auswirkungen für Fische, Vögel und Meeressäuger laut Bericht als „leicht negativ“ einzustufen. Dies sei auf das „Licht und den Lärm (…) der Plattform, die Wasserverschmutzung sowie durch Einleitungen und auf die Präsenz des Stromkabels“ zurückzuführen. Bezüglich möglicher Absackungen prognostiziert das Forschungsinstitut Deltares „die wahrscheinlichste endgültige Bodensenkung“ mit 2,6 Zentimetern. Dies habe jedoch „keinen merklichen negativen Einfluss auf den Naturwert“.
Experte: Unsicherheit bleibt
Bliebe es tatsächlich bei den angeführten 2,6 Zentimetern Absackung, sei dies „theoretisch vernachlässigbar oder zumindest vertretbar“, sagt Wilhelm Dominik, emeritierter Professor für Explorationsgeologie von der Technischen Universität Berlin. Dominik, der selbst lange bei dem Energiekonzern Veba Oil tätig war und das Geschäft sehr gut kennt, ist ein gefragter Experte auf seinem Gebiet. Sein Kalender ist proppevoll, für die Anfrage des Abendblatts nimmt er sich jedoch fast eine Stunde Zeit.
Absackungen werde es Dominik zufolge immer geben, da „sowohl Gas, Öl, aber auch Wasser im Porenraum des Reservoirgesteins wie eine Art hydraulischer Stützdruck wirken, der sich bei der Förderung der Kohlenwasserstoffe sukzessive verringert“. Durch die gleichmäßige Absenkung des Bodens dürften jedoch aller Voraussicht nach keine größeren Probleme auftreten, so der Professor.
Allerdings komme es „immer darauf an, welche Mächtigkeit das Reservoir in der Tiefe habe“. Doch selbst bei präzisester Berechnung bestünde am Ende immer ein Restrisiko, weshalb kein Unternehmen der Welt für eine 100-prozentige Sicherheit garantieren könne.
Hört man sich auf der Insel um, wirken diese Debatten weit weg. Auf dem mit Bäumen umringten Bouleplatz, gleich neben der Polizeistation und der Touristikinformation, trifft sich wie jeden Dienstagabend der Sea Boule Club. Ein paar ältere Männer in blauen Pullovern und roten Halstüchern werfen Kugeln. Sie lachen ausgelassen. Spricht man sie auf das Erdgasvorhaben an, verstummt das Lachen schnell.
Das Problem bei der ganzen Thematik sei, „dass die Naturschützer nicht mit den Insulanern zusammenarbeiten“, sagt einer der Männer. „Es wird einfach über unseren Kopf hinweg entschieden, und wir müssen uns immer mehr einschränken. Zum Beispiel beim Surfen, Angeln oder im Watt“, sagt ein anderer. Man dürfe „nichts mehr“. Selbst die Dünen, „auf denen früher Kinder gespielt haben“, dürfe man nicht mehr betreten, beklagt einer der Männer, der über 20 Jahre lang Wattwanderungen mit Jugendlichen gemacht habe und eigentlich ein „großer Naturfreund“ sei. Auf die Frage hin, ob die Männer von den möglichen Gefahren für die Insel wüssten, folgt allerdings Schweigen.
Bürgermeister zweifelt an Stopp des Projekts
So reagieren viele auf der Insel. Auch die Touristen wissen meist nichts von der Plattform-Diskussion. „Entschuldigung, dazu kann ich nichts sagen“, ist die oft gefallene Antwort. Das stimmt Bürgermeister Akkermann nachdenklich. Er nimmt einen Schluck Kaffee und fasst sich an den Kopf. Bisher hatte der 55-Jährige einen „anderen Eindruck“, sagt er. „Viele Bewohner sind sehr engagiert bei dem Thema.“
Optimistisch ist er aber nicht. Denn selbst wenn die Behörden dem Vorhaben eine Absage erteilen würden, zweifelt der Bürgermeister an dem kompletten Stopp des Projekts. Es befinden sich schließlich lediglich einzelne Vorhabensbestandteile auf deutschem Hoheitsgebiet, wie Eike Bruns, Sprecher des LBEG erklärt. Und die Niederländer haben längst zugestimmt.
„Für die Vorhabensbestandteile auf deutschem Hoheitsgebiet (Bohrungen, Seismik, Erdgasförderung) ist ein eigenständiges deutsches Planfeststellungsverfahren mit Umweltverträglichkeitsprüfung erforderlich (…) in Verbindung mit § 52 Abs. 2 a Bundesberggesetz“, sagt Bruns für alle, die es ganz genau wissen wollen. Die Teilprojekte sind: Bau und Betrieb einer Plattform in den niederländischen Küstengewässern, Kabellegung für die Stromversorgung zum Offshore-Windpark „Riffgat“ (Hoheitsgebiet Niederlande und niedersächsisches Küstenmeer), Abteufen von Bohrungen und Durchführung von seismischen Erkundungen (Hoheitsgebiet Niederlande und Deutschland), Förderung von Erdgas (Hoheitsgebiet Niederlande und Deutschland) und schließlich der Bau und Betrieb einer Erdgasleitung (Hoheitsgebiet Niederlande). Neben einer Genehmigung für den Bau der Plattform sei allerdings noch die Erteilung einer Bergbauberechtigung vonnöten.
Wie viel Erdgas überhaupt genau über die Plattform gefördert werden kann, ist unklar. Schätzungen reichen bis zu 60 Milliarden Kubikmeter. Auch die gemeinsame Erklärung von One-Dyas und der niedersächsischen Landesregierung führt diese Menge an. Zum Vergleich: 2021 lag der deutsche Erdgasverbrauch bei knapp 100 Milliarden Kubikmetern, Tendenz steigend. Die Vorkommen reichten demnach nicht einmal für ein Jahr. Zumal auch nur die Hälfte des Gases nach Deutschland fließen würde.
Wann mit einem Ergebnis zu rechnen ist, sei zwar „noch nicht absehbar“, das Landeskabinett werde jedoch innerhalb der nächsten zwei Wochen über die Erklärung entscheiden, heißt es seitens der Regierung. Eine abschließende Genehmigung kann jedoch erst nach einem Planfeststellungsverfahren durch das LBEG erfolgen.
Der Kampf um das Wattenmeer ist also längst noch nicht vorbei.