Scheeßel. Das Festival-Rezept von Scheeßel: Wasser von oben, Musik von vorn und Austoben in einer Parallelwelt abseits der Norm.

Der Pulk vor der Bühne hievt Frank Carter hoch, packt ihn an den Oberschenkeln, sein Haar brennt rot, die Tattoos winden sich über seinen Hals wie blaue Schlangen. „Lasst uns ­etwas ganz Neues erschaffen“, ruft er noch, der Kreis der Jünger um ihn wird größer. Die Band des britischen Punkers lässt auf der Bühne einen Akkord los. Donner. Jubel. Und doch nur ein ­Urknall für das, was noch folgen wird.

Das Hurricane erwacht da erst richtig an diesem Sonnabend, es ist 15.30 Uhr, die Zelte auf den Äckern zittern im Wind, und leichter Sprühregen fällt. Das Wetter ist pünktlich zum Festival in Scheeßel eingeknickt, die Funktions­jacken prägen den Dresscode – aber auch das passt zu dieser Parallelwelt, zu der Reise, die hier jeder der 65.000 ­Besucher anzutreten scheint (im Vorjahr waren es knapp 80.000 gewesen). Mit Wucht herausgedröhnt aus dem Alltag, vielleicht näher zu sich selbst, vielleicht auch nur ins wohlige Delirium.

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    Ein schmaler Teenager, Typ Mathe-Leistungskurs, hat schon zahllose Unterschriften auf seinem T-Shirt ­gesammelt und verteilt Umarmungen mit dem Feuer eines Don Juan. „Liebe, Leute, Liebe“, hat eine engelsblonde Mittzwanzigerin knapp die Losung mit Edding auf ihr T-Shirt gemalt. Vor der Green Stage posiert eine Gruppe von Männern in Tierkostümen. Es ist wieder Karneval der Identitäten, hier will jeder selbst seinen Ruf bestimmen, wie bei Facebook oder Instagram – nur ungesteuert, ungefiltert, roh, herzlich.

    Am Freitag sind sie mit dem „Endboss“ Marteria gesprungen, „von Level zu Level“, die bassig plonkende Hymne für Menschen, die das ganze Jahr hart an sich und ihrem Erfolg arbeiten, um es für ein Wochenende ­lachend in die Tonne zu werfen. „Ist das hier ne Party?“ hat der Rapper in den ­Jubel ­gerufen, sich eine Diktatoruniform übergeworfen; „werd doch einfach Präsident!“, heißt es in „El Presidente“. Ein Donald Trump hat das auch ­geschafft. Da wirkt der Hedonismus heutzutage doch gleich verlockender als zu große Ziele.

    Von der Dönerbude bis zur Platinlounge

    Was Frank Carter mit seinen „Rat­tlesnakes“ als bösen Bienenschwarm aus Gitarrenmusik entfesselt, eben wie „Stick To Your Guns“ auf der kleinsten Bühne des Festivals, ist schon das fortgeschrittene Stadium gnadenloser Selbstverwirklichung. Wer am Sonnabend über das Gelände streift, zwischen einer absurd großen Auswahl, vom Elk-Döner über den „Escape-Game-Adventure-Bus“ bis zur edlen Platinlounge, stolpert auch von einer sorgfältig arrangierten Splitter­dimension der Festivalmacher in die nächste.

    Die blaue Bühne ist am Sonnabend das Kopfnicker-Käppiträger-Schlaraffenland: „Prost ihr Säcke“ frohlocken die Berliner Rapperinnen SXTN. Bis hinter den zweiten Wellenbrecher wirbeln ­dazu sehr junge Frauen konfettiwerfend herum, jede Silbe taktgerecht auf den Lippen. Später darf Dendemann („Endlich Nichtschwimmer“) als norddeutscher Kodderschnauze-Dinosaurier sein lang ausbleibendes Comeback auf großer Bühne zelebrieren.

    Dann sind die Beginner dran, noch so eine frisch geölte Deutschrap-Instanz. „Hurricaaaane, wo ist mein Portemonnaie“, brüllt ein junger Mann mit Glühlampen um den Hals, während er zur Bühne pilgert. Dann schwelgt er selig im „Hamburg City Blues“ und gibt Jan Delay im Chor das geforderte „hammerhammerhart“. Ein Fuchs muss eben tun, was ein Fuchs tun muss.

    Keith Flint schreit sich in Ekstase

    Wirklich gefühlig geht es auch auf der rocklastigeren Hauptbühne zunächst nicht zu – es dominieren die Stammgäste wie die Deutsch-Pop-Punker von Madsen, die sich „fühlen, wie nach Hause zu kommen“, und die Indie-Rocker von The Kooks. Für die großen Euphoriemomente stehen Biffy Clyro auf dem Programm, die Herren Stadionrocker liefern mit freien Oberkörpern: „Many Of Horror“, das mit zarter Gitarre alte Liebeswunden aufreißt ebenso wie „Wolves of Winter“, das jeden Schmerz in lauter Euphorie begräbt.

    Der Sturm, das große Gewitter des Hurricanes an diesem Tag, tritt vor Mitternacht in Form zweier Männer auf die Bühne. The Prodigy überziehen das Rund mit vier haubitzenartigen Bassschlägen pro Sekunde. Frontmann Keith Flint schreit sich mit Stieraugen in Ekstase. „Da gehe ich niemals rein“, sagt eine junge Frau mit Blick auf die kochende Meute zu ihrem Freund.

    Die Scheinwerfer schießen noch bis in die Nacht in den Himmel, die Festival-Maschine geht auf Stand-by, auch am Sonntag wird die Verwandlung andauern. Kraftklub, Arcade Fire und die Arctic Monkeys stehen auf dem Zeitplan. Anschließend Heimfahrt, Entschlammung, warme Dusche, Ausschlafen. Zurückverwandeln in der anderen, manchmal schrecklich zwanghaften Welt.