Bad Zwischenahn. Nach 180 Jahren sorgen nun vegetarische Produkte für Wachstum. Verbraucherschützer kritisieren den Fleisch-Ersatz.
Christian Rauffus hat einen seltsamen Humor. Der Chef der Rügenwalder Mühle stieß unlängst auf die Werbeanzeige eines Wurstherstellers. „Vegetarismus ist heilbar“, stand dort in großen Lettern geschrieben, darunter war ein saftiges Steak abgebildet. Rauffus lachte, aber nicht der Vegetarier wegen. Den Fleischermeister, der das Familienunternehmen in sechster Generation führt, amüsierte der Wunsch dieses Wurstfabrikanten. Nanu!
Vor eineinhalb Jahren ging es los, dass Rauffus Vegetarier vom Feind zum Freund umdeutete. Als einer der ersten Wursthersteller begann der Traditionsbetrieb aus dem niedersächsischen Bad Zwischenahn fleischfreie Produkte auf den Markt zu bringen. Schinken, Frikadellen und Bratwürste, die eigentlich keine sind, aber so aussehen und schmecken sollen. So schaffte es eine der bekanntesten Wurstmarken Deutschlands auch bei denen im Einkaufskorb zu landen, die sich fleischfrei ernähren. Von den 205 Millionen Euro Umsatz im vergangenen Jahr fielen 20 Prozent auf die Veggie-Produkte.
Wenn Thomas Wittkowski von der Halle mit der traditionellen Wurstproduktion in diejenige für die vegetarische wechselt, wirkt er wie in eine neue Zeitrechnung katapultiert. An der Hygiene-Schleuse desinfiziert der Geschäftsleiter für Produktion Hände und Schuhe, streift sich eine grüne Haube über und steigt in einen ebenso grünen Overall. Von den blutigen Schweinelebern und von den durch den Fleischwolf getriebenen Schweineschultern nebenan darf hier bloß nichts landen.
Deutsche essen immer weniger Fleisch
Wittkowski will zeigen, wie der Verkaufsschlager der Rügenwalder Mühle, der „Vegetarische Schinken Spicker“, aussieht, bevor er freundlich grün verpackt im Kühlregal der Supermärkte landet: eine rosarote Masse, die mehr an Erdbeerjoghurt denn an Wurst erinnert. Ein Arbeiter wacht neben einem runden, tosenden Stahlbehälter, der das Gemisch, mehrheitlich aus Eiklar, Wasser, Öl, Farbstoffen und Gewürzen, kräftig rüttelt. Aus bis zu 15 Komponenten besteht eine Veggie-Wurst, die normale aus nur etwa fünf. Später presst ein Stahlrohr die Masse in Kunststoffpelle zur Wurstform. Ein Arbeiter hängt die wässrigen Würste auf eine Stange, bereit zum Festkochen. „Damit haben wir schon echte Fleischermeister gefobbt.“ Wittkowski findet das witzig. Derlei Gelassenheit musste unter den Arbeitern erst einmal reifen. Jeder in der Produktion muss mal Fleisch, mal Veggie herstellen. Und so stehen nun Fleischergesellen an den Kuttern und lösen Soja in Wasser auf. Was ist mit der Berufsehre?
„Natürlich, das muss man den Mitarbeitern erklären.“ Bis vor Kurzem waren Firmenpatriarch Rauffus gesellschaftliche Erscheinungen wie die des „Flexitariers“ selbst noch fremd. Nun aber fordert er von seinen Mitarbeitern mindestens die Flexibilität eines Teilzeit-Vegetariers. Wenn man dem 63-Jährigen eines nicht vorwerfen kann, dann jene Altersstarrheit, mit der schon viele langjährigen Chefs ihr Unternehmen in die Sackgasse führten. Statt sich an Traditionen zu klammern, haben er und sein langjähriger Marketingchef Godo Röben den Kunden zugehört und verstanden, dass diese mehr und mehr grün ticken.
Seit Jahren nimmt der Fleischkonsum ab. 1991 aßen die Deutschen jährlich noch 64 Kilo pro Kopf. 2005 waren es nunmehr 59,2. Gleichzeitig ist ein riesiger Markt für vegetarische Produkte entstanden. Um 31,5 Prozent ist der Absatz von Fleischersatzprodukten 2015 im Vergleich zum Vorjahr gewachsen. Der Umsatz der Fleischwarenindustrie hingegen stieg nur um 0,7 Prozent. Dem Vegetarierbund Deutschland zufolge ernähren sich hierzulande 7,8 Millionen Menschen vegetarisch, das sind rund zehn Prozent der Bevölkerung. 42 Millionen verzichten an drei oder mehr Tagen in der Woche auf Fleisch.
Erfolglose Werbekampagnen für Fleisch
Rauffus erinnert sich an eine große Kampagne für die Pommersche Leberwurst, in die das Unternehmen vor Jahren viel Geld investierte. Nach acht Monaten habe man nur eineinhalb Tagesproduktionen mehr verkauft. „Da muss ich sagen, das Geld ist weg.“ In den vergangenen fünf Jahren vor der Veggie-Zeit sind die Umsätze der Mühle jährlich nur um ein bis zwei Prozent gewachsen. Im vergangenen Geschäftsjahr gab es ein Umsatzplus von 17 Prozent. Von den 500 Tonnen produzierte Wurst pro Woche sind 100 Tonnen vegetarisch. Um das zu stemmen, hat das Unternehmen von rund 500 auf mittlerweile 600 Mitarbeiter innerhalb weniger Monate aufgestockt.
Es hätte auch schiefgehen können. Schließlich sei „ein solch radikaler Wechsel“ auch eine Herausforderung für die Marke, sagt der Professor für Marketing und Verkaufsmanagement an der Uni Gießen, Alexander Haas: „Ist man als Fleisch-Marke positioniert, ist man zunächst unglaubwürdig und muss die Markenpositionierung verändern.“ Wohl auch deshalb schaltet das Unternehmen nunmehr nur noch für die vegetarischen Produkte Werbung, die echte Wurst wird nicht mehr beworben.
Damit ist es allerdings nicht getan. Röbens Albtraum hat einen Namen: „Greenwashing“. Im Marketing-Jargon ist damit ein Unternehmen gemeint, das sich ein umweltfreundliches Image verleiht, ohne dass etwas dahinterstecken würde. Vor Kurzem hat Röben deshalb den Chef überzeugt, dass sie nicht mehr Eier aus Boden-, sondern aus Freilandhaltung verarbeiten. Das kostet zwar 40 Cent pro Kilo mehr, aber die Tierschützer waren beruhigt.
Verbraucherschützer kritisieren Fleisch-Ersatz
Doch mittlerweile haben Verbraucherschützer auch den Fleischersatz ins Visier genommen, weil die Produkte so stark verarbeitet sind. Zu viele Geschmacksstoffe, Stabilisatoren, Gen-Soja, lautet vielfach die Kritik. Bei dem vergangene Woche von der Stiftung Warentest veröffentlichten Test von Fleischersatzprodukten schnitt das „Vegetarische Mühlen Schnitzel“ der Rügenwalder Mühle mit „mangelhaft“ ab.
„Sehr hoch mit Mineralölbestandteilen belastet“, so das Fazit der Tester. In Bad Zwischenahn ist man um Schadensbegrenzung bemüht: Man habe eine entsprechende Zutat inzwischen ausgetauscht. „Wir haben immer gewusst, im ersten Jahr werden wir gehypt, im zweiten treten die Kritiker auf den Plan“, sagt Röben. Er glaubt aber fest daran, dass die Öffentlichkeit die vegetarische Wurst schon bald als „normales“ Lebensmittel wahrnehmen wird.
Wenn Rauffus und Röben über die grüne Zukunft der Mühle sinnieren, wirken sie fast wie zwei von der Leine gelassene Hunde. Röben will schon gar nicht mehr von einem Wurstproduzenten sprechen, nennt das Unternehmen lieber einen „Lebensmittelhersteller“. Man könne sich vorstellen, irgendwann gar keine Wurst mehr zu verarbeiten. Rauffus schiebt schnell nach, dass das natürlich der Kunde entscheide. Aber es gibt Pläne, wonach man künftig auch ganz andere Lebensmittel herstellen könnte. Solche, die nicht mehr die Wurst imitieren und natürlich pflanzlich sind.
Bis dahin soll die Formel „20-40-60“ den Betrieb voranbringen. Im Jahr 2020 sollen 40 Prozent der produzierten Wurst vegetarisch sein, 60 Prozent die traditionelle Wurst. Den Vegetarismus jedenfalls will an der Rügenwalder Mühle keiner heilen.