Laave/Lüneburg. Bauer Jürgen Voß aus dem Landkreis Lüneburg bietet Kindern und gestressten Großstädtern ganz besondere Stunden zur Entschleunigung an.
Janosch aus Walsrode kann es kaum erwarten, Laura kennenzulernen. Beide sind sechs Jahre alt. Der eine wohnt mit seinen Eltern und Schwester Franca in einem Zweifamilienhaus, die andere in einem Stall bei Bauer Voß. Laura ist eine Milchkuh, sehr zutraulich und allzeit bereit, ihre Wärme mit anderen zu teilen.
Bevor Laura und Janosch sich kennenlernen, serviert Bäuerin Heidi Voß leckeren Kuchen für die Kinder und Janoschs Mutter, eine 29-jährige Lehramtsstudentin. Es geht um die niedrigen Milchpreise, das Wetter und um die 150 Rinder vom Kalb bis zur tragenden Kuh, die bei Bauer Jürgen Voß in den Ställen und auf der Weide stehen.
Auf der Suche nach weiteren Einnahmequellen war der Landwirt vor einiger Zeit auf einen Fachbeitrag in einer holländischen Zeitschrift gestoßen. Kuscheln mit Kühen lautete ein Projekt, das Großstädtern nachweislich beim Stressabbau hilft und Kindern das Leben auf dem Land hautnah erschließt. Seitdem stellt Jürgen Voß, 58, Laura und andere talentierte Kühe und Kälber auf seinem Hof in Laave (Amt Neuhaus bei Lüneburg) zum Kuscheln bereit. Gern eine Stunde und länger.
Es ist schon ein besonderes Date, als Laura und Janosch einander begegnen. Janosch stiefelt durch den Stall, beäugt von Dutzenden dunklen, großen Kuhaugen. Es stinkt, wie ein Kuhstall eben stinkt, und beim Betreten von Lauras Reich schließt Janosch erste Bekanntschaft mit einem frischen Kuhfladen. „Bislang haben wir in Hamburg und damit in einer Großstadt gelebt“, sagt seine Mutter. „Bei Bauer Voß soll mein Sohn nun das Landleben aus nächster Nähe kennenlernen.“
„Das beruhigt die Nerven und baut Stress ab“
Wie alle Kühe verfügt Laura über eine höhere Körpertemperatur als der Mensch. 39 Grad Celsius ist sie warm. Mit ihren kuhbraunen Augen strahlt sie Ruhe aus. Das permanente Herumkauen auf Heu und Stroh wird gerade durch einen Rülpser unterbrochen, als Janosch den ersten Annäherungsversuch unternimmt. Er tastet sich an die feuchtnasse Schnauze heran, legt seine Hände auf den warmen Kuhleib. Bald darauf folgt, ganz mutig, der Kopf. „Schön!“, strahlt der Junge, der im August in die Schule kommt. Laura lässt es sich auch gefallen, als Janosch die Ohren erkundet. Schließlich ist so etwas für die kuschelerfahrene Kuh fast schon Alltag.
Längst hat sich das Kuschelangebot herumgesprochen. „Rund 70 Prozent der Kunden sind Frauen und Mädchen, der Rest Männer“, sagt Bauer Voß. Vor allem Großstädter finden Gefallen an den ruhigen, großen Tieren. „Das beruhigt die Nerven und baut Stress ab“, sagt er. Damit greift der niedersächsische Bauer eine gesellschaftliche Entwicklung auf, denn viele Deutsche fühlen sich zunehmend gestresst. Einer Umfrage der Techniker Krankenkasse zufolge ist für 53 Prozent der Erwachsenen in Deutschland das Leben in den vergangenen Jahres stressiger geworden. Besonders belastet seien demnach Menschen zwischen 36 und 45 Jahren. 80 Prozent dieser Generation fühlten sich unter Druck, weil sie sich gleichzeitig um Beruf, Kinder und die eigenen Eltern kümmern müssten.
Diese Altersgruppe ist auf dem Bauernhof am häufigsten vertreten. Manche Kundinnen könnten sich nach intensiven Stunden nur schwer von ihrer Lieblingskuh trennen – so entspannt und entschleunigt fühlen sie sich. Andere wiederum suchen vor allem das besondere Erlebnis. Danach haben sie in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis etwas zu erzählen. Diese Kunden seien bei all ihrem persönlichen Wohlstand auf der Suche nach etwas Neuem, sagt Bauer Voß. „Und mit Kühen zu kuscheln ist etwas, was die anderen noch nicht gemacht haben.“
50 Euro für das Kuscheltreffen
Demnächst will der einfallsreiche Landwirt eine weitere Zielgruppe ins Visier nehmen: die gestressten Manager. Warum muss man weit reisen, um mit Delfinen zu schwimmen, wenn schon Kühe vor der eigenen Haustür glücklich machen?
5o Euro pro Familie kostet derzeit das Kuscheltreffen, inklusive Vorgespräch bei Kaffee und Kuchen. Bauer Jürgen Voß legt Wert darauf, von seinem Hof und den Tieren zu erzählen. Dass er sie auf der Basis von Homöopathie selbst behandelt und damit einen Beitrag zur alternativen Tierhaltung leistet. Ein Nebeneffekt: Die Tierarztkosten sind seitdem deutlich gesunken. Oder dass er in Sorge um die Zukunft der Milchbauern ist, weil die Preise im Keller sind. Wäre nicht seine Familie, könnte er diesen Beruf allein gar nicht ausüben.
Jürgen Voß ist trotzdem Landwirt mit Leib und Seele. Dass sein Tagwerk morgens um sechs Uhr beginnt und erst abends endet, stört ihn nicht. Er liebt seine Tiere und die Ursprünglichkeit der Natur im Amt Neuhaus. „Das hier ist ein Stück Sibirien mitten in Niedersachsen.“ Auch den Urlaubs- und Tagesgästen gefällt es auf dem Hof. Janosch möchte eigentlich gar nicht wieder nach Hause fahren, sondern sich erst noch die Bentheimer Schweine und die zwölf Katzen anschauen. Und dann wartet noch ein Kälbchen, das vor einer Woche das Licht der Welt erblickt hat – vielleicht wird es die neue Kuschel-Kuh bei Bauer Voß.