Hier liegt das Obst auf den Straßen: Wer in die Elbtalaue im östlichen Niedersachsen fährt, darf die Früchte direkt von der Straße pflücken. Vor allem geschmacklich ein besonderes Erlebnis.
Bitter. Sie haben Muttermale auf der Haut, hin und wieder eine Narbe, perfekt sieht sicher anders aus. Aber dann hält man die Nase auf die Haut und beißt hinein, und spätestens dann ist die Gewissheit da: dass perfekt eben auch nur eine Frage des Geschmacks ist. Vor allem, wenn man dieses Prachtstück direkt vom Baum gepflückt hat. Der Saft läuft aus den Mundwinkeln das Kinn hinunter.
„Fühlen Sie mal“, sagt Elke Haul und reicht dem Besuch einen großen, wohlig rund geformten Apfel. Er pappt an den Fingern, es ist ein Holsteiner Stettiner, und die wachsige Oberfläche ist typisch für diese Sorte. Sie ist nicht die einzige, die an den teilweise 100 Jahre alten Bäumen rund um den Hof hängt. Goldparmäne, Jakob Lebel, Prinzenapfel und Gelber Richard heißen die Früchte, den Boskop haben die Hauls gleich in vier verschiedenen Ausführungen: in Rot, Grau, Grün und Gelb.
Um die 200 Jahre alt ist das Bauernhaus der Familie. Fred-Erhard Haul ist hier geboren, seit 56 Jahren lebt er an diesem Fleck direkt hinterm Elbdeich. Der hat das Hochwasser im Juni zwar vom Grundstück ferngehalten, doch unter Wasser standen die Wiesen trotzdem: Die Nässe kam von unten.
„Die Hälfte unserer jungen Bäume der neuen Streuobstwiese hat das nicht überlebt“, sagt der Kfz-Meister und Nebenerwerbsapfelbauer, er zeigt auf einen schmalen Stamm mit ein paar Zweigen aber keinen Blättern. Einige besonders alte Sorten hatte er eigens aus dem Alten Land nach Bitter geholt, jetzt warten seine Frau und er darauf, dass ihre bestellten Bäumchen groß genug zum Umpflanzen sind. Karl Peters und Roter Brasilienapfel heißen ihre neuen Zöglinge. Anstatt wie üblich drei bis fünf Tonnen werden sie in diesem Jahr wohl eher zwei Tonnen ernten, schätzt der Mann im grünen Overall. Den Apfelernte-Jutesack trägt er vor dem Bauch.
Die 100 Bäume der Hauls sind nicht die einzigen faltigen Senioren mit wohlklingenden Namen und betörendem Duft in der Elbtalaue: Etwa 10.000 Obstbäume säumen rund 60 Kilometer Straßen. Dort leuchten Geflammte Kardinäle, Herbstprinzen, Goldrenetten Freiherr von Berlepsch, Gelbe Köstliche und Nathusius’ Taubenäpfel, dazwischen hängen Hunderte Schöne von Charneu – besser bekannt als Bürgermeisterbirne.
„Obstbaumalleen – Früchte der Elbtalaue“ heißt das Projekt, das seit mehr als zehn Jahren läuft. Bis 1989 gehörte der östliche Teil der Gegend zur DDR, seit dem 1. Oktober 1993 zählt er zu Niedersachsen. Wo andernorts die Obstbaumalleen in den Fünfziger Jahren gefällt worden sind, sind sie im ehemaligen Sperrgebiet der DDR stehen geblieben.
Den agrarhistorischen Schatz gehoben haben das Amt für Landentwicklung Lüneburg und die Verwaltung des Unesco-Biosphärenreservats Niedersächsische Elbtalaue. Die Behörden stuften die Obstbäume als schützenswert ein, ließen sie beschneiden und die Kronen auslichten, außerdem pflanzten sie fast 4000 Stück nach. Auch die Zuzügler tragen mittlerweile die ersten Früchte.
Zwölf Obstbaumlehrpfade führen Besucher durch die Region, mehr als 100 Bäume tragen Namensschilder. Die mit Abstand schönste Allee liegt laut Siegrun Hogelücht von der Touristenformation in Neuhaus in Bitter – wo auch die Hauls ihren Hof haben. „Dort säumen Äpfel- und Birnenbäume eine alte Kopfsteinpflasterstraße.“ Die Menschen der Elbtalaue geizen nicht mit weiteren Tipps. Die Obstbaumallee des Jahres 2009 des Bundes für Umwelt und Naturschutz in Bohnenburg zum Beispiel. Oder die Strecke unter dem Motto „Typisch alte Straßenobstsorten“ in Kolepant.
Historischer Hintergrund für die fruchtige Wucht ist eine Anordnung aus dem 17. Jahrhundert: Landstraßen mussten mit Obstbäumen eingefasst sein. Die Anordnung trug Früchte – bis heute. Dass das so bleibt, dafür will auch der Verein Konau 11 sorgen, der sich in dieser Woche gegründet hat. In dem jahrhundertealten Koopmannshof in Konau, Hausnummer 11, ein paar Kilometer flussabwärts von Bitter, hat der Verein seinen Sitz. Seine Ziele: die Obstbaumalleen pflegen, die Lehrpfade weiterentwickeln und eine Pflanzenzucht aufbauen.
Wer beim Ausflug in die Elbtalaue auf den Geschmack kommen möchte und einmal in einen Herbstprinz oder Gelben Köstlichen beißen möchte, der darf das: direkt vom Zweig an der Straße in den Mund. Apfelernte einmal anders.