Vom Konzentrationslager Bergen-Belsen ist nichts erhalten geblieben. Der Enkel eines Häftlings hat nun eine virtuelle Rekonstruktion für das iPad erstellt, die einen Gang durch das Lager ermöglicht.
Bergen-Belsen. Als britische Truppen im April 1945 das Konzentrationslager Bergen-Belsen erreichen, treffen sie auf ein Inferno. Tausende von Toten stapeln sich, Krankheiten raffen die Häftlinge dahin. Um ein Verbreiten von Seuchen zu verhindern, brennen sie das Lager in der Lüneburger Heide nieder. Dies erschwert heute die Gedenkstättenarbeit, denn an das Lager erinnert baulich nicht mehr viel. Am Tag des offenen Denkmals an diesem Sonntag, 8. September, können Besucher erstmals mit einer virtuellen, dreidimensionalen Rekonstruktion des Lagers auf dem iPad das Gelände erkunden. Erstellt wurde sie vom Enkel eines in Bergen-Belsen gestorbenen Niederländers. Das Projekt stößt aber auch auf Kritik.
Der friedliche Eindruck heute passe nicht zu den Schreckensbildern aus dem Konzentrationslager, die sich in das Gedächtnis eingebrannt haben, sagt Gedenkstättensprecherin Stephanie Billib. Neben den Massengräbern und Denkmälern prägten Wald-, Grün- und Heideflächen das Bild. „Das irritiert.“ Mit dem multimedialen Geländeguide lässt sich nun die Lage von Baracken, Wachtürmen und Zäunen im heutigen Gelände verorten. Besucher können von ihrem jeweiligen Standort aus in jede Blickrichtung einen dreidimensionalen Eindruck des Lagers und seiner Gebäude gewinnen aber auch alte Fotos, Zeichnungen oder Zeitzeugenberichte aufrufen. Auf eine fotorealistische Animation wurde bewusst verzichtet.
„Ich war geschockt als ich sah, dass dort nichts ist“, erinnert sich Paul Verschure an seinen ersten Besuch in Bergen-Belsen, bei dem er 2005 seines Großvater gedenken wollte. Er beginnt mit Hilfe von Historikern und Überlebenden eine virtuelle Rekonstruktion von der er als Psychologe weiß, dass sie es dem Besucher erleichtert, das Lager emotional zu begreifen und ihm eine Bedeutung zuzuordnen. Verschure befragt Überlebende, denen die virtuelle Rekonstruktion beim Gang über das Gelände hilft, sich an dort Geschehenes zu erinnern. „Je mehr Zeit verstreicht, desto wichtiger ist es, die Rekonstruktion mit Hilfe von Überlebenden vorzunehmen.“ Auch ihre Erinnerungen können Besucher auf dem iPad abrufen.
Der Wunsch zu einer realistischeren Gestaltung der Gedenkstätte kommt unter anderem von jüdischer Seite. Es müsse Besuchern ermöglicht werden, die Dimension des Lagers zu erfassen, sagte Jochi Ritz-Olewski von der Organisation von Bergen-Belsen-Überlebenden in Israel vor kurzem. „Wir finden, dass etwas fehlt, das demonstriert, was dort passiert ist und dies nicht so sehr der persönlichen Vorstellung überlässt“. Keinen Wiederaufbau von Baracken, vielleicht aber von Fundamenten wünschte sich auch der juristische Berater des jüdischen Weltkongresses, Menachem Rosensaft, im vergangenen Jahr. „Wenn Sie jetzt dahin kommen, sehen Sie nur schöne Bäume.“
Für pietät- und respektlos hält indes Kommentatorin Ramona Ambs in der „Jüdischen Allgemeinen“ den App-Guide, der am Denkmaltag gleich mit einer Matinee mit Mittagsbuffet und Gypsy Swing präsentiert wird. Der virtuelle Wiederaufbau des Lagers ist ihr ein Dorn im Auge. „Braucht man eine 3D-Inszenierung, um via App das Lager abzuschreiten? Geht es mehr um die Architektur der Hallen als um den Respekt vor den Opfern?“, fragt die Schriftstellerin. „Und wo wird das enden? Kann man dann demnächst anderswo auch per App eine virtuelle Gaskammer erscheinen lassen und ein wenig damit herumspielen?“
Verschure aber geht es darum, den Umgang mit dem Nationalsozialismus nicht auf geschlossene Räume wie im Dokumentationszentrum von Bergen-Belsen zu beschränken. „Die Realität ist, es gibt nichts zu sehen.“ Um dies zu verändern, ermöglicht seit einem knappen Jahr bereits eine Computersimulation des Niederländers am Eingang der Gedenkstätte einen virtuellen Rundgang über das damalige Konzentrationslager. Sie soll Teil der Dauerausstellung werden. Verschure ist überzeugt: „Man muss aktiv mit Geschichte umgehen.“