Abendblatt-Serie: Woher kommt unser Essen? Die 23. Reise führt ins 285 Kilometer entfernte Emlichheim, wo die Hemo-Geflügelproduktion im Jahr 4,5 Millionen Hühner mästet.

Emlichheim. So klein, so warm, so flauschig. Während das Küken in meiner Hand hektisch einen Ausweg sucht, schlägt das kleine Herz rasch und spürbar. Mit der Zeit beruhigt sich das Tier, es genießt die Wärme meiner Hand und hockt sich hin. Man müsste schon ein Herz aus Stein haben, dass einem ein zwei Wochen altes Küken nicht ein zärtliches Gefühl entlockt. Wäre da nicht die riesige Halle, gut 100 Meter tief, künstlich beleuchtet und mehr als 20 Grad warm. Und wären da nicht die mehr als 15.000 anderen Küken, die um mich herum auf dem Hallenboden scharren, aus Miniaturwasserhähnen trinken oder sich aus gelben Körbchen ihr Futter herauspicken.

Die sieben Hallen, in denen im Jahr bis zu 4,5 Millionen Hühner gemästet werden, stehen in Emlichheim in der Grafschaft Bentheim. Unsere Hähnchenbrust stammt von hier. Die Grenze zu den Niederlanden folgt im äußersten Westen Niedersachsens einer Ausbuchtung auf das Gebiet unserer Nachbarn. Letztlich aber spielen in dieser Gegend politische Grenzen kaum eine Rolle. Bert Vogel, Eigentümer der Hemo-Geflügelproduktion, ist Holländer, sein acht Leute umfassendes Mitarbeiterteam besteht zu einem großen Teil aus Deutschen.

Von außen sehen die einzelnen Hallen unscheinbar aus. Keine vier Meter hoch, kleine Fenster. Das Gelände ist weitläufig und erinnert mehr an eine Kaserne. Zwischen den Hallenkomplexen verlaufen Asphaltstraßen. Lediglich die mehrere Meter hohen Futtersilos fallen einem ins Auge. Bert Vogel und ich betreten einen kleinen Vorraum. An der Wand hängt ein berührungsempfindlicher Computerbildschirm, auf dem unterschiedliche Daten wie Futtermenge, Hallentemperatur oder Wasserstand angezeigt werden. „Der Computer steuert beispielsweise die Futterzufuhr, damit die Tiere stets ausreichend zu essen haben“, erklärt der Chef. Er spricht von „optimiertem Futtereinsatz“.

Das wirkt alles sehr durchorganisiert. Bert Vogel nickt und sagt: „Das ist schon eine Industrie.“ Und was für eine. Statistisch gesehen isst jeder Deutsche in seinem Leben 945 Hühner und 46 Puten. Im Jahr konsumiert so jeder Einwohner hierzulande rund 19 Kilogramm Geflügelfleisch. Damit liegt Geflügel vor dem Verbrauch von Rind- und Kalbfleisch (rund 13 Kilogramm), aber deutlich hinter Schweinefleisch (rund 54 Kilogramm). 2011 wurden in Deutschland 912.000 Tonnen Hühnerfleisch verbraucht.

Hühnchenfleisch ist, betrachtet man es rein wirtschaftlich, eine Erfolgsgeschichte. In den vergangenen zehn Jahren stieg die Erzeugung hierzulande um rund 70 Prozent. 2011 wurden zwischen Oder und Rhein rund 1,66 Millionen Tonnen Geflügelfleisch produziert – so viel wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. 369 Millionen eingestallte Hähnchenküken zählten die Statistikämter.

Auch der weltweite Verbrauch von Geflügelfleisch hat in den vergangenen Jahren – vor allem in Schwellenländern wie China oder Indien – deutlich zugenommen. So explodierte die weltweite Produktion von Geflügelfleisch seit der Jahrtausendwende um 49 Prozent und liegt derzeit bei etwas mehr als 100 Millionen Tonnen pro Jahr. Zum Vergleich: die Zahl der Bewohner der Erde nahm in diesem Zeitraum lediglich um rund 14 Prozent zu.

Bert Vogel öffnet eine graue Tür. Wir treten ein. Stickige Wärme schlägt uns entgegen. Es riecht etwas streng, aber nicht unangenehm. Ein halblauter Piepsgeräuschteppich liegt in der Luft. Im Halbdunkel sind die Tausenden Kücken zu erkennen. Drei Wochen sind sie alt. Sechs Wochen lang werden die Tiere hier gemästet. 40 Gramm wiege das ein paar Tage alte Kücken am Anfang, erzählt Bert Vogel. „Das Schlachtgewicht liegt dann bei gut 2,5 Kilogramm.“

Das Kraftfutter besteht zum großen Teil aus Mais und Weizen. Vogel weiß um die Debatten über Kraftfutter und artgerechte Tierhaltung. „Die amtlichen Kontrollen sind streng“, sagt er. Sowohl das Futter als auch die Ställe werden regelmäßig überprüft. 15 Hühner kommen auf einen Quadratmeter – so, wie es das Gesetz vorschreibt. „Und: Die Prüfer kommen unangekündigt.“ Bevor es in die Schlachterei geht, prüft der Amtstierarzt.

Nach sechs Wochen haben die Hühner ihr Schlachtgewicht erreicht. Dann ruft Bert Vogel eine Spezialfirma an. „Die Greifer kommen am Abend und sammeln über Nacht die Tiere ein“, erzählt der Hemo-Chef. Die Hühner werden in Container gesteckt, am Ende – immer 6000 Tiere – auf einen Lkw-Hänger verladen und zum Schlachthof transportiert. Die Geflügelwirtschaft verweist darauf, dass in Deutschland die Wege zur Schlachterei kurz sind. Die Tiere sollen nicht unnötigen Strapazen ausgesetzt werden. Bei Bert Vogel liegt die Entfernung zum Schlachthof im Durchschnitt unter 200 Kilometer.

Nach dem Abtransport der Tiere werden die Ställe sauber gemacht, desinfiziert und für die nächste Ladung Kücken vorbereitet. Es klingt seltsam nüchtern, wie Bert Vogel diesen Vorgang beschreibt. Dabei sind der Unternehmenschef und seine Mitarbeiter keine seelenlosen Menschen, denen das Schicksal der Tiere egal sind. Sie nehmen es mit ihrer Arbeit sehr genau, achten darauf, dass Temperatur und Futterversorgung stimmen.

Und doch beschleicht mich ein ambivalentes Gefühl, als ich inmitten dieses großen Stalles stehe. Tausende Kücken, deren einziger Lebenszweck darin besteht, sechs Wochen zu fressen, um dann geschlachtet zu werden. Gleichzeitig denke ich daran, wie oft die Konsumenten im Supermarkt zum Hähnchenfleisch greifen. Auch weil es so preiswert ist.

Moderne Hühnerzucht ist Produktion, die Gesetzen der Industrie folgt und nicht jenen der idyllischen Aufzucht von ein paar Hühnern im Hinterhof. Sie muss sich daher den Regeln der Marktwirtschaft unterordnen und die einfachste dabei ist: die Kosten müssen niedriger sein als der Erlös. Zwei Euro und 30 Cent bekommt Bert Vogel für ein aufgezogenes Tier. Rund 1,70 Euro muss er für Futter bezahlen. Hinzu kommen Kosten für Energie, Unterhaltung der Ställe, Tierarzte und die Bezahlung der eigenen Leute.

Dass es sich am Ende rechnet, liegt an dem hohen Automatisierungsgrad in dem Betrieb. Rein rechnerisch betreue ein Mitarbeiter 100.000 Hühnchen – und zwar an sieben Tagen die Woche, sagt der 57-Jährige. Computer kontrollieren ständig die wesentlichen Abläufe und schlagen Alarm, wenn etwas aus dem Ruder läuft. Zudem betreibt Bert Vogel die Hühnerzucht an mehreren Standorten. „Die Größe der Ställe ist gesetzlich festgelegt“, sagt er. Um Geld zu verdienen, sind daher mehrere Produktionsstätten notwendig. „Mit einer Halle verdient man einfach zu wenig, um zu überleben.“

Während der Wachstumsphase werden die Hühner auch mit Antibiotika behandelt. Anders ließe sich die Massenproduktion nicht aufrechterhalten und das geschäftliche Risiko einer Erkrankung der Hühner wäre nicht zu tragen, sagt Bert Vogel. Kritiker warnen inzwischen davor, dass sich durch die Vergabe von Antibiotika Resistenzen bei jenen Bakterien entwickeln können, gegen die die Medikamente eigentlich wirken sollen. Dem im Frühjahr dieses Jahres veröffentlichten Fleischatlas zufolge tritt bereits bei bis zu zwei Dritteln der Masthähnchen in Massentierhaltungsanlagen dieses Phänomen auf. Pro Kilogramm erzeugtem Fleisch werden hierzulande 170 Milligramm Antibiotika eingesetzt.

Wir sitzen wieder im Büro von Bert Vogel und ich frage ihn, ob er sich auch vorstellen könnte, Biohähnchen aufzuziehen. „Ich hätte damit kein Problem und würde das auch machen“, antwortet der 57-Jährige. Das Problem liegt aus seiner Sicht woanders. „Ein Hühnchen würde dann 16 oder gar 17 Euro kosten, und die meisten Kunden sind nicht in der Lage oder nicht bereit, so viel Geld zu bezahlen.“