Weil es weniger Landärzte gibt, fahren in Niedersachsen medizinische Fachangestellte über die Dörfer. Modell auch in Hamburg möglich.
Es ist ruhig, an diesem Morgen um acht Uhr, im niedersächsischen Örtchen Großenwede. Einzig ein Auto ist über die schneebedeckten Felder hinweg zu sehen. Die medizinische Fachangestellte Andrea Baden, 42, aus Schneverdingen fährt zu ihrer ersten Patientin Ilse Röhrs, 81. Die ehemalige Landwirtin ist nach dem Tod ihres Mannes auf dem Bauernhof geblieben, ihr Sohn betreibt die Landwirtschaft allein. Er hat keine Zeit, seine diabeteskranke Mutter regelmäßig in die sieben Kilometer entfernte Praxis der Hausärztin zu fahren.
Eine überalternde Gesellschaft einerseits und Ärztemangel andererseits zwingen die Landesregierungen, Ärztekammern und Kassenärztliche Vereinigungen von Deutschlands Flächenregionen zu neuen Konzepten im Gesundheitssystem. Eines davon ist das Projekt Modell Niedersachsen, kurz MoNi genannt. In Absprache mit dem Hausarzt übernehmen medizinische Fachangestellte aus den Arztpraxen medizinische Aufgaben bei den Patienten zu Hause. So auch Andrea Baden, die in dem Modellprojekt eine Lösung für die drohende medizinische Unterversorgung auf dem Land sieht.
Alles begann vor sieben Jahren in Mecklenburg-Vorpommern. Wissenschaftler der Uni Greifswald ermittelten, was eine Schwester ohne Doktortitel braucht, um den Landarzt zu entlasten. Auf Rügen fand das Pilotprojekt statt: Drei medizinische Fachangestellte versorgten von 2005 bis 2007 rund 100 Patienten. Basierend auf den Ergebnissen aus dem Modellprojekt, entstand am 1. April 2009 eine Fortbildung zur nicht ärztlichen Praxisassistentin. Abhängig von der Dauer ihrer Berufserfahrung muss die medizinische Fachangestellte für diese Zusatzqualifikation zwischen 190 und 270 Stunden Fortbildungen absolvieren. Dann kann der Arzt ihre Arbeit abrechnen.
Einzige Bedingung: Die Praxis muss sich in einem unterversorgten Gebiet befinden. Noch sind nur wenige Bereiche, besonders in den östlichen Bundesländern, davon betroffen. Allein in Mecklenburg-Vorpommern fehlen derzeit 190 niedergelassene Allgemeinmediziner, Tendenz steigend. In den kommenden Jahren wird sich die medizinische Versorgung auch in den westlichen Flächenländern eklatant verschlechtern. So werden laut einer Prognose der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen (KVN) im Jahr 2020 in Niedersachsen mehr als 1000 Hausärzte fehlen. In den Landkreisen Wolfenbüttel, Lüchow-Dannenberg sowie im Heidekreis werden in den kommenden Jahren mehr als ein Viertel der Hausarztpraxen frei bleiben - das bedeutet Unterversorgung.
Daher entschloss sich die KVN vor zwei Jahren zum Modellprojekt MoNi und finanziert es zusammen mit dem niedersächsischen Gesundheitsministerium, der AOK, den Betriebskrankenkassen, der Knappschaft und der Landwirtschaftlichen Krankenkasse. Acht Arzthelferinnen in den Regionen Vechta und Schneverdingen als MoNis übernahmen insgesamt 2543 Hausbesuche - unter der Aufsicht von Ärzten. "Wir wollen keine weitere konkurrierende Säule im Gesundheitssystem, sondern die medizinischen und pflegerischen Kapazitäten unter der Koordination des Hausarztes bündeln.", sagt KVN-Sprecher Uwe Köster. Für die wissenschaftliche Evaluation des Projektes ist das Berliner Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland (ZI) zuständig. "Derzeit liegen erst vorläufige Ergebnisse vor, die auf eine hohe Zufriedenheit der Ärzte und der MoNis hindeuten", sagt ZI-Geschäftsführer Dominik Graf von Stillfried. "Bei Patienten finden sich ebenfalls Tendenzen zu einer leichten Steigerung der Zufriedenheit. Diese Ergebnisse stimmen in ihrer Richtung mit anderen Ergebnissen, zum Beispiel aus Mecklenburg-Vorpommern, überein." Aufgrund der positiven Resonanz und der Analyseergebnisse wurde beschlossen, das Projekt MoNi um ein Jahr zu verlängern und dann - sofern die Krankenkassen entsprechende Verträge abschließen - in die Regelversorgung aufzunehmen.
Nur zu gern würde auch Klaus Schäfer, Vize-Vorsitzender des deutschen Hausärzteverbandes, Landesverband Hamburg und Vizepräsident Hamburger Ärztekammer, MoNis auf Hamburgs Straßen umherfahren sehen. Schäfer selbst führt eine Hausarztpraxis in Langenhorn und sieht sich täglich mit dem demografischen Problem der Überalterung konfrontiert: "Weil meine Patienten neun Jahre älter sind als der durchschnittliche hamburgische Hausarztpatient, muss ich viele Hausbesuche machen." Noch ginge es vielen Kollegen besser als ihm: "Aber in wenigen Jahren wird das Landarzt-Problem aus den ländlichen Regionen wie ein Tsunami in die Hamburger Ballungsgebiete einbrechen."
Dominik Graf von Stillfried vom Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung sieht für Großstädte wie Hamburg noch ein weiteres Problem: "Die Bevölkerung im ländlichen Raum um Großstädte herum wird zu einem Großteil durch Fachärzte in der Stadt mitversorgt." Damit stünden diese Ärzte schon jetzt vor ähnlichen Herausforderungen wie ihre Kollegen auf dem Land, wobei hier nicht die Hausbesuche das Problem seien. In der fachärztlichen Versorgung könnte die Einführung von Telemedizin Wegezeiten für Patienten reduzieren, "wenn beispielsweise fachärztliche Beratungen per Telemedizin auch in einer Hausarztpraxis erbracht werden können".
Anders auf dem Land: Für Michael Renken ist das Modellprojekt "ein guter Ausweg aus dem demografischen Dilemma, auf das das deutsche Gesundheitssystem zusteuert." Gemeinsam mit seiner Frau Jasmin versorgt er in seiner Praxis in Schneverdingen bis zu 2700 Patienten pro Quartal. Seit seine medizinische Fachangestellte Andrea Baden als MoNi das Gros der Hausbesuche übernommen hat, sind die Patienten zufriedener: "Frau Baden hat mehr Zeit und kennt die Probleme ihrer Patienten genauso gut wie wir Ärzte. Der Weißkittel-Effekt fällt weg, die Leute sind offener." Andrea Baden vereinbart selbstständig Termine mit ihren Patienten, nimmt Blut ab, spült Ohrenschmalz, zieht Fäden, prüft Blutdruck und Blutzuckerwerte, legt und wechselt Verbände, versorgt PEG-Sonden und gibt Medikamente - immer in Absprache mit dem Arztehepaar Renken. "Ihr Auftrag geht weit über das Medizinische hinaus", sagt Jasmin Renken. "Die soziale Komponente ist genauso wichtig. Früher konnte sich der Hausarzt immer Zeit für ein ausführliches Gespräch nehmen, heute macht das bei Hausbesuchen die MoNi."
So auch beim Ehepaar Lührs aus Hemsen. Die 87-jährigen ehemaligen Landwirte wohnen im ersten Stock ihres Bauernhauses. Auf einen abgesprochenen Türklingelton hin werfen sie den Haustürschlüssel aus dem Fenster in Andrea Badens Hände. Otto Lührs kann sich nur langsam im Rollstuhl fortbewegen, Hilda Lührs leidet nach ihrer Brustkrebs-Operation an einer Lymph-Abflussstörung im Arm. "Ich bräuchte dringend Lymphdrainagen, aber der Krankengymnast will nicht zu uns kommen", sagt Hilda Lührs zu Andrea Baden. "Ich kümmere mich darum", sagt diese und guckt sich Otto Lührs' Wunde am Unterarm an: "Das sieht gut aus, nächste Woche komme ich wieder."
Montags und donnerstags fährt Baden quer durch den Landkreis und kümmert sich um bis zu 14 Patienten pro Tag. Der jüngste Patient ist 61 Jahre alt, der älteste Patient 98 Jahre. Wenn sie gegen zwölf Uhr in die Hausarztpraxis zurückkommt, bespricht sie mit Jasmin Renken jeden einzelnen Patienten. "Die MoNi bedeutet für uns eine enorme Entlastung" sagt Jasmin Renken. "Wir haben sehr viele Patienten, die weitflächig verteilt sind. Durch MoNi können wir sie wohnortnah versorgen." Außerdem habe sie allen die Nöte und Ängste der Patienten wieder näher gebracht. Es gebe immer mehr chronische und multimorbide Patienten, die regelmäßig medizinisch kontrolliert werden müssten, den Weg in die Praxis aber kaum noch bewältigen könnten. "Oftmals warten diese Patienten bis zum allerletzten Moment und schleppen sich dann in die Praxis, wenn es schon fast zu spät ist", sagt Michael Renken. "Hausbesuche gehören für uns mehr denn je zu unserem Beruf dazu, aber alle schaffen wir nicht mehr."
Zudem sei die Vergütung für die zeitliche Aufwendung äußerst gering, sagt Günter Meyer aus Schneverdingen, dessen Gemeinschaftspraxis ebenfalls an dem Modellprojekt teilnimmt: "Für einen 45-minütigen Hausbesuch bekommen wir 21,03 Euro vor Steuern und Versicherungsaufwendungen." Eine MoNi erhält pro Hausbesuch eine Pauschale inklusive Wegegeld in Höhe von 22 Euro. Obwohl in ihrer Praxis ebenfalls eine MoNi arbeitet, fahren Meyer und sein Praxiskollege Carlo Huss noch 30 Hausbesuche pro Woche selbst, zusätzlich zu den Besuchen im Altenheim - außerhalb der Sprechstunden. Carlo Huss sieht in dem Modellprojekt eine Chance, den Nachwuchs für den Job als Landarzt zu begeistern. "Wir brauchen neue Ideen, um die Versorgung auf dem Land weiter zu gewährleisten", sagt sein Kollege Meyer. "Wir Ärzte können nicht mehr alles abdecken, dafür ist die demografische Entwicklung zu ungünstig." Mit MoNi würden die alten, immobilen Patienten zu Hause versorgt, während sich die Ärzte auf die Arbeit in der Praxis konzentrierten.
Gleichzeitig werte MoNi den Beruf der medizinischen Fachangestellten auf, sagt Hannelore König, Vorsitzende des Verbandes medizinischer Fachberufe: "Noch gehört unser Beruf zu den zehn beliebtesten Berufen bundesweit. Aber wenn Gehalt und Zukunftsaussichten gering bleiben, wird sich das bald ändern." Das Einstiegsgehalt liege derzeit bei einem Stundenlohn von 9,55 Euro brutto - das Durchschnittsgehalt einer examinierten Altenpflegerin hingegen liegt bei 11,83 Euro brutto. "Mit MoNi gibt es eine Chance, die Jobaussichten und damit auch das Gehalt zu verbessern", sagt Hannelore König. Zudem bereite es den nicht ärztlichen Praxisassistentinnen viel Freude, "eigenständig zu arbeiten - selbstverständlich immer in Delegation mit dem Hausarzt". Andrea Baden stimmt ihr zu. 20 Jahre lang begrüßte sie hinter dem Empfangstresen die Patienten, führte sie in die Sprechzimmer, nahm Blut im Labor ab. Für sie sei der Job als MoNi im Außendienst eine willkommene Abwechslung. Außerdem könne sie den alten Menschen etwas geben, auf das sie oftmals eine Woche warten müssen, bis sie mit ihrem Kleinwagen wieder auf den Hof fährt. "Ich höre ihnen zu", sagt Andrea Baden. "Für viele einsame Menschen sind ein offenes Ohr und ein gutes Gespräch genauso heilsam wie ihre Medizin."