Der Atomausstieg ist beschlossen, es gibt eine offene Endlagersuche. Doch viele Wendländer trauen den Politikern nicht. Nachfrage vor Ort.
Abhauen, raus, bloß weg. Fred Dorogi blickt aus seinem großen Giebelfenster und denkt bei einer Zigarette an Flucht. Noch ist es neblig-ruhig in Grippel, einem kleinen Örtchen im Landkreis Lüchow-Dannenberg. Es riecht nach Dung. Die Polizei fährt Kreise.
Am Wochenende müssen hier elf Atommüllbehälter vorbei. Und Dorogi, ein gelassener 64-Jähriger mit Zopf, will vor den Protesten in seine alte Heimat Berlin flüchten: "Ich habe keinen Bock auf Belagerung." Er sympathisiere mit den Atomgegnern, aber Hundertschaften Polizei, quer stehende Traktoren und angekettete Menschen vor der Haustür könne er nicht gebrauchen. "Ich bin mit den Jahren harmonieliebend geworden", sagt Dorogi. Widerstand sei nun mal nicht mehr sein Ding.
Fred Dorogi wird einer der wenigen sein, die in diesen Tagen den Landkreis verlassen. Gestern hat sich der nunmehr 13. Castor-Transport an der französischen Wiederaufbereitungsanlage La Hague in Bewegung gesetzt, um sein gut 1200 Kilometer entferntes Ziel anzusteuern: Gorleben. 102 Behälter mit hochradioaktivem Müll stehen bereits in der überirdischen Halle des Zwischenlagers. Elf neue kommen an diesem Wochenende hinzu. Mit ihnen rücken 19.000 Beamte von Polizei und Bundespolizei an, die ein breites Bündnis aus 185 Organisationen, Parteien, Gruppen und Bürgerinitiativen davon abhalten sollen, sich dem Atommüll-Transport in den Weg zu stellen. 30.000 Demonstranten werden erwartet. Kaum weniger als im Herbst 2010. Damals hatte der Bundestag die Laufzeitverlängerung deutscher Atommeiler beschlossen, der Castor-Transport verursachte Rekordkosten von 33,5 Millionen Euro, und Fukushima war nur ein Atomkraftwerk in Japan.
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Heute ist die Lage ganz anders. In Fukushima ereignete sich eine verheerende Reaktorkatastrophe, woraufhin die Bundesregierung mit einer bemerkenswerten politischen Rolle rückwärts den Atomausstieg bis 2022 beschloss. Umfragen zufolge begrüßt die Mehrheit der Bundesbürger das. Und Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) verkündete unlängst sogar, die Endlagersuche sei wieder offen, Gorleben nur eine Option von vielen. Nach diesen Entwicklungen könnte im Wendland eigentlich Hoffnung aufkeimen.
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Aber entlang der 20 Kilometer langen Straßentransportstrecke zwischen dem Verladebahnhof Dannenberg und dem Zwischenlager bei Gorleben sitzt der Unmut tief. Hier müssen die Castor-Behälter von der Schiene auf die Straße. Hier ketten sich Menschen seit dem ersten Transport im Jahr 1995 an Pyramiden, stehen plötzlich betonbeschwerte Leichenwagen oder große Traktoren auf der Straße. Und weil die Polizei hier nicht immer zimperlich war, wird auch 2011 friedlicher, aber erbitterter Widerstand angekündigt.
Links und rechts der Trasse wussten sie nämlich schon lange, was der Untersuchungsausschuss "Gorleben" kürzlich konstatierte: Das geplante Endlager im Salzstock sei in den 70er-Jahren nicht wegen seiner geologischen Beschaffenheit ausgewählt worden, sondern aus politisch-strategischen Motiven. Erst neulich wurden hier erhöhte Strahlenwerte vor dem Zwischenlager gemessen. "Deshalb glaube ich Minister Röttgen kein Wort", sagt Heiko Jäger, Mitglied der federführenden Bürgerinitiative Umweltschutz und seit den 1980ern Atomgegner. "Hier wurde von Politikern so oft so plump gelogen."
Auch das neue Endlagersuchgesetz sei "überhaupt nicht konturiert". Die Erkundung im Salzstock Gorleben dauere nach dem zehnjährigen Moratorium weiter an. "Deshalb demonstrieren wir weiter und verweigern uns einem Schulterschluss. Denn das bedeutet nichts weiter als: Gorleben ist im Topf." Jägers Wohnort Quickborn liegt an der nördlichen von zwei möglichen Castor-Routen der letzten Etappe. "Früher standen schon eine Woche vorher zwei Wasserwerfer im Ort", sagt er. Diesmal halte sich die Polizei im Vorfeld des Transports zurück.
Der gewachsene Unmut richtet sich auch gegen die vereinzelt harsche Taktik der Polizei. Obwohl viele Polizisten das Anliegen der Demonstranten verstehen, die Polizeigewerkschaft sogar mit friedlichem Protest sympathisiert, haben die Beamten den Auftrag, den Transport zu schützen und ins Ziel zu bringen. Landwirt Wilhelm Struck hat Verständnis für diese Zwickmühle, aber von Schikanen und bedrückender Stimmung hat er auch zu berichten. Er ist stellvertretender Bürgermeister der Gemeinde Gusborn, hat zwei Kinder, widersetzt sich seit 1977 den Atommüllplänen und ist Mitglied der Bäuerlichen Notgemeinschaft. Sein Gehöft liegt an der südlichen Route zum Zwischenlager. "Auch wenn es nicht mehr so schlimm ist wie beim Transport 1997 - da erzählen die Alten noch immer, es sei wie im Krieg gewesen -, liefert man sich dauernd nervige Scharmützel mit der Polizei."
Dabei geht es dem 51-Jährigen eigentlich um die Sache. Er handele aus Verantwortung seinen Kindern und dem großen Ganzen gegenüber. "Wir sperren uns ja nicht nur gegen ein nukleares Entsorgungszentrum", sagt er. Deutschland produziere weiterhin reichlich Atommüll, ohne die Frage nach einem Endlager hinreichend beantwortet zu haben. Das sei wie Fliegen ohne Landebahn. Struck ärgert es auch, dass vor seiner Haustür Fakten geschaffen werden, etwa mit der Pilotkonditionierungsanlage, einem Verpackungszentrum für die radioaktive Fracht. "Die Leute sollen durch unseren Protest erkennen, was hier wirklich läuft", sagt Struck. "Dem als Schwiegersohn verkleideten Umweltminister werden wir jedenfalls nicht auf den Leim gehen."
Die Bäuerliche Notgemeinschaft will alles tun, den Transport zu behindern. Wie ernst der Widerstand der Bauern mittlerweile von der Polizei genommen wird, zeige die Einrichtung einer eigenen Soko und der Einsatz von verdeckten Ermittlern, sagt Struck. Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) will entschlossen gegen Traktorblockaden vorgehen. So etwas wie 2010, als Versorgungs- und Rettungswege abgeschnitten waren, soll 2011 nicht wieder vorkommen.
In Grippel, nebenan von Fred Dorogi, hat Bauer Wolfgang Zipoll seinen Hof. Kreative Straßenbarrikaden gab es hier fast jedes Jahr. "Aber es ist immer ein Gefühl der Hilflosigkeit, wenn die Behälter doch durchkommen", sagt Zipoll, 63. "Nach einem Protest hat man den Eindruck, keiner hört einem zu. Man bespricht vieles, macht einiges - und am Ende erreicht man doch nichts." Dennoch engagiert sich seine ganze Familie jedes Jahr aufs Neue. Aufgeben sei das Letzte, was ihm in den Sinn komme. Denn im Wendland teilt der Castor-Transport die Zeit in ein "Davor" und ein "Danach". Damit wachsen Kinder auf. Bei ihnen setzt sich fest, dass Atommüll über Generationen strahlt und sie zwangsläufig betrifft. Während der Castor-Transporte fragen die Kinder nicht selten "Mama, wann ist der Krieg zu Ende?", erzählt Leony Renk. Mit ihrer Ehefrau Margarete Pauschert lebt sie in Laase, dem letzten Ort vor dem "Atomklo", wie das Zwischenlager Gorleben hier genannt wird. Die massive Polizeipräsenz sei für alle prägend. "Und in diesem Jahr haben wir ja mit 19.000 Beamten bei etwa 30.000 Demonstranten einen hohen Betreuungsschlüssel", sagt Pauschert. Die beiden Pastorinnen wollen auch in diesem Jahr den Spielplatz des Ortes schmücken, Demonstranten ein Dach über dem Kopf bieten und sich dem Kampf für Generationengerechtigkeit stellen - Atomausstieg hin oder her.
Wie solidarisch sich das gesamte Wendland mit den Protesten zeigt, wird am Verladebahnhof deutlich. In der Raststätte "Arena" werden Demonstranten in diesen Tagen geduldet und verpflegt, selbst wenn sie nicht zahlungskräftig sind. Für Mitarbeiterin Andrea Mahnke bringen die Transporttage "Stress und Aufregung". Aber in jedem Fall will die "Arena" von 6 bis 24 Uhr statt von 9 bis 22 Uhr öffnen. Wer sich aufwärmen will, wird toleriert. "Wir sind generell neutral und loyal zu jedem Gast, aber natürlich gehört unsere Sympathie unseren Leuten vor Ort."
Andrea Mahnke fühle sich an "Jurassic Park" erinnert, wenn sie durch Polizeiabsperrungen zur Arbeit fährt. "Angsteinflößend", "unwirklich" und "gespenstisch" sei das. Da bleibe einem fast nichts anderes übrig, als Partei für die Demonstranten zu ergreifen. Ihr Verhältnis zu den Transporten sieht sie als ambivalent. Sie hoffe eigentlich nur auf friedliche Tage.
Der harmonieliebende Fred Dorogi will aus Berlin erst wiederkommen, "wenn der Spuk vorbei ist". Experten rechnen mit Sonntag oder Montag.