Lüneburg. Pilot und Fotograf Holger Weitzel ist in die Luft gegangen ist. Autorin Carolin George beschreibt, was wir sehen. Heute: Die Lüneburger Altstadt

Es ist die Welt der schiefen Mauern, der krummen Balken, der hochgeschossenen Stockrosen und des buckeligen Kopfsteinpflasters. Eng aneinander gekuschelt stehen sie da, die alten Häuschen der ehemaligen Handwerker, Fuhrleute und Händler. Bauten die Patrizier und die Pächter der Saline ihre hohen Häuser mit den berühmten Treppengiebeln am Markt und Am Sande, lebten und arbeiteten die anderen hier, im Viertel rund um St. Michaelis.

In eine Senke hinein und zu St. Michaelis hinauf führt der Blick vom Rathaus bis zur Kirche. Ursprünglich eine ebene Fläche, hat es hier 1013 einen Erdfall gegeben, und noch in den 1960er-Jahren fürchtete manch einer, die Gasse würde eines Tages für immer unter der Oberfläche eines Binnensees verschwinden. So hoch steht das Grundwasser, so stark senkt sich der Boden. Einige Bewohner mussten ihre Keller mit Sand zuschütten, weil sie auf Grundwasserniveau abgesackt waren.

Nach 1000 Jahre Soleförderung sackt das Viertel ab

Und doch lässt sich noch heute Auf dem Meere gehen, der Straße, die auf dem Foto von links oben in Richtung St. Michaelis führt: vom Marienplatz aus, an der Rückseite des Lüneburger Rathauses.

Die Handwerker sind wieder da, zu restaurieren und zu reparieren gibt es auch nach der langen Sanierungsphase gegen Ende des 20. Jahrhunderts in jeder Straße etwas. Denn das Viertel sackt ab. Es zahlt den Tribut für weit mehr als 1000 Jahre Soleförderung. 250 Kubikmeter Salzwasser pumpten die Lüneburger einst aus der Erde, an jedem einzelnen Tag. Und sie verdienten damit viel, viel Geld.

Riesige Tücher schützten die Gläubigen vor herabfallenden Mauerbrocken

Noch heute senkt sich der Boden, und selbst die mächtige St. Michaelis, vor mehr als 600 Jahren gebaut, galt zeitweise als einsturzgefährdet. 22 Jahre lang schützten riesige Tücher die Gläubigen in der Kirche vor herabfallenden Mauerbrocken, solange, bis Ingenieure elastischen Putz und Kunststoffgewebe in das Gewölbe eingearbeitet haben. Querträger verbinden die um 70 Zentimeter aus dem Lot geratenen Säulen. Und trotzdem fressen sich jedes Jahr neue Risse in die Mauern.

Mehr als 500 Jahre lang sind Glöckner die 155 Stufen hinauf in den Glockenstuhl gestapft, um die Glocken zu läuten. Heute übernimmt das die Elektrik. Und trotzdem gibt es eine ganze Glöckner-Gilde, bestehend aus Mitgliedern der Gemeinde. Auch sie stapfen immer wieder durch das enge, runde Treppenhaus hinauf bis in den Glockenstuhl.

Glöckner spielen auf dem Kirchturm das sogenannte Stockenklavier

Natürlich nicht, um zum nächsten Gottesdienst oder womöglich zu jeder Viertelstunde zu läuten. Die Glöckner von heute tun etwas viel Verrückteres: Sie spielen dort oben ein Instrument, auf dem sie niemals üben können. Jedenfalls nicht, ohne dass jemand zuhört: Stockenklavier heißt das System aus Holztasten.

Seile aus Hanf führen von den Stöcken über Rollen hinauf zu den Klöppeln in den Glocken. Die größte Glocke des Geläuts, die Michaelisglocke mit einem Durchmesser von 140 Zentimetern, hat 1492 das Glockengenie des Mittelalters gegossen, sein Name: Gerhard van Wou. Und die Glöckner von heute spielen auf ihnen Choräle. Acht Holztasten, acht Glocken, acht Töne: Dass die Läuteglocken einer Kirche eine Oktave ergeben, ist mehr als ungewöhnlich. 5,3 Tonnen wiegen die Glocken insgesamt. Und wenn die einmal in Bewegung geraten, dann hört die ganze Altstadt mit.

Alte Handwerkerstraße zeigt das Leben im 16. Jahrhundert

Erstmals seit 2018 hatte der Arbeitskreis Lüneburger Altstadt für das vergangene Wochenende wieder zur Alten Handwerkerstraße eingeladen. In den Gassen rund um St. Michaelis herrschte am Sonnabend und Sonntag reges Markttreiben, vor den Häusern reihen sich Verschläge und Verkaufsstände aneinander.

Die Handwerker arbeiteten vor Ort mit Werkzeugen der Renaissancezeit, Händler boten ihre Waren feil, Gaukler und Ausrufer sorgten für die eine oder andere Überraschung beim erstaunten Publikum. Dazu gab es Leckeres von der speziell gewürzten „Renaissancebratwurst“ über nach Originalrezepten gebackenes Brot bis zu einem nach alter Tradition gebrauten Bier.

Dazu gab’s Informationen über die Geschichte des Salzabbaus in der Saline und über das Leben in der Lüneburger Altstadt, wie es sich im 16. Jahrhundert zugetragen haben müsste. Die Stadtwache nahm keinen Eintritt und sammelte stattdessen Spenden. Der Erlös kommt der Restaurierung alter Baudenkmäler zugute