Schwarzenbek. Schwarzenbek. Vor 70 Landfrauen erzählte Gesine Lange über ihr Leben in der DDR und die Repressalien gegen ihre Familie.
„Die erste Pfarrstelle meines Vater war in Lüssow, einem Dorf bei Güstrow. Ich liebte diese heile Welt. Wir spielten auf den Feldern und im Garten. Es duftete so herrlich nach Flieder“, erinnert sich Gesine Lange an ihre Kindheit in der ehemaligen DDR. Was die spannende Lebensgeschichte der 50-Jährigen so bedeutsam macht: Lange ist die Tochter des früheren Bundespräsidenten Joachim Gauck. Vor knapp 70 Mitgliedern des Landfrauenvereins Schwarzenbek berichtete Lange, die heute als Erzieherin in Ritterhude bei Bremen lebt, über ihr Leben in der DDR.
In die Kirche kamen nur eine Handvoll
„Wir hatten ein kleines Haus mit Kohleöfen, einer Wasserpumpe in der Küche und einem Plumpsklo. Hinter dem Haus floss ein Bächlein“, erinnert sich Lange. Sie spielte viel mit den Geschwistern draußen. In die Kirche ihres Vaters, der Pastor war, kamen manchmal nur eine Handvoll Dorfbewohner. „Ich gebe mir genauso viel Mühe wie in einer vollen Kirche“, habe ihr Vater gesagt.
Umzug ins ungeliebte Plattenbauviertel
Auf die Dorfidylle folgte 1971 der Schock: Der Vater entschied sich, nach Rostock-Evershagen zu gehen, um dort eine Kirchengemeinde aufzubauen. Der Umzug in die Dreieinhalbzimmerwohnung des tristen Plattenbauviertels fiel der Mutter Gerhild Gauck, genannt „Hansi“, und den Kindern schwer. „Es war alles grau“, beschreibt Gesine Lange das Leben dort. In den Kindergarten ging die Dreijährige nicht. Das war eine Ausnahme. Bis heute kann die Erzieherin es nicht verstehen, dass viele dieses Betreuungssystem in der ehemaligen DDR so loben. Sie sehe die Frauen noch vor sich, die sehr früh am Morgen ihre Kinder in die Krippen und Kitas brachten – kleine, halbschlafende Wesen. Derweil baute Joachim Gauck seine Gemeinde auf: Weil Werbung für die Kirche verboten war, ging er von Haus zu Haus.
„Ich bin bilingual aufgewachsen“
„Es passte dem Staat nicht, dass sich außerhalb von Freier Deutscher Jugend, SED und den Arbeitskollektiven Menschen treffen und sich austauschen über das, was nicht in Ordnung war: Ich bin deshalb bilingual aufgewachsen“, sagt Lange. Eine Redensart sei für zu Hause gewesen, die andere die offizielle. Die benutzte sie in der Schule – dort hieß die Mauer „antifaschistischer Schutzwall“, die Sowjetunion wurde „Brudervolk“ genannt. Demonstrationen gegen die Staatsführung gab es nicht, sondern nur solche dafür, die „Manifestationen“ genannt wurden.
„Und wo ist die Liebe?“
Wegen ihrer Herkunft und ihres Glaubens wurden die Gauck-Kinder, Gesine hat noch eine Schwester und zwei Brüder, oft gestichelt und gedemütigt. So auch als DDR-Kosmonaut Siegmund Jähn 1978 mit einer sowjetischen Rakete in den Weltraum flog: „Wo ist er denn, dein Gott? Siegmund Jähn hätte ihn doch sehen müssen, oder?“, wurde sie von der Lehrerin gefragt. Doch Gesine antwortete schlagfertig: „Wo ist denn die Liebe? Können Sie mir mal sagen, wo die ist?“ Da brach die Lehrerin die Diskussion ab.
Eingesperrt im eigenen Land
Es gab noch vieles, gegen das sich Gesine Lange aus heutiger Sicht gern mehr aufgelehnt hätte. Im Unterricht über Zivilverteidigung galt es, provisorische Gasmasken zu basteln und Handgranatenweitwurf zu üben. Brav wie die Lämmer hätten das alle mitgemacht. Sich anpassen, duckmäusern, eingesperrt sein im eigenen Land, Kritik nicht offen aussprechen dürfen, die Musik, die man liebt nicht hören dürfen, nicht studieren dürfen – den Brüdern Martin und Christian wurde das zu viel: Sie stellten 1984 den Ausreiseantrag.
Die Brüder reisten aus, sie blieb bei ihrem Vater
Dreieinhalb Jahre wartete die Familie, ertrug weitere Repressalien und Demütigungen, bis die Ausreisegenehmigung kam. „Innerhalb weniger Tage, mussten sie raus. Kurz vor Weihnachten, damit es richtig weh tut“, erinnert sich Lange: „Wir wussten, wir würden die Brüder möglicherweise nie wiedersehen.“ Es sei wie Tod, schrieb Joachim Gauck später in seinem Buch „Winter im Sommer, Frühling im Herbst“, in dem er viele Aufzeichnungen aus Gesine Langes Tagebuch verwendete.
Der Liebe wegen nach Bremen
Sie wollte wie ihr Vater in der DDR bleiben und etwas verändern. Ihre Fluchtstätte und ihr Halt war die Kirche. Sie wurde Kinderdiakonin. Dann kam jedoch auch für sie ein Umbruch. Sie verliebte sich in einen jungen Mann, der aus der Partnergemeinde Bremen zu Besuch in Rostock war. Er wollte für die junge Frau in den Osten ziehen, doch Joachim Gauck riet ab, denn der junge Mann könne sich unmöglich in der DDR wohl fühlen. Sie heiratete ihn und reiste im Juni 1989 aus. Im November fiel die Mauer.