Lauenburg/Lübeck. Angriff auf Mitarbeiterin eines Salons ereignete sich im Juni. Oberstaatsanwältin spricht von Wahnvorstellungen des Beschuldigten.

Es ist der blanke Horror, was Jessica R. (45, Name geändert) am 5. Juni 2020 gegen 8.45 widerfuhr. Noch heute ist sie in medizinischer und psychologischer Behandlung. Die gelernte Friseurin kam frühzeitig zur Arbeit, suchte einen Parkplatz vor dem Salon an der Berliner Straße und stieg aus. Zuvor hatte sie bereits einen unscheinbaren Mann wahrgenommen, der am Straßenrand stand.

Als sie ausstieg habe der Unbekannte ihre linke Hand ergriffen und sie aufgefordert, mitzukommen und ihr den Autoschlüssel zu geben. „Er hat die ganze Zeit gelächelt. Ich hatte furchtbare Angst. Ich habe versucht, ihm zu entkommen und bin mit dem Rücken zum Geschäft zurückgewichen, weil ich wusste, dass meine Kollegin bereits da sein müsste“, so die Zeugin am Mittwoch unter Tränen vor dem Landgericht Lübeck.

Mann soll auf sie eingeschlagen und eingestochen haben

Danach soll der Mann auf sie eingeschlagen und schließlich mit einem Taschenmesser auf sie eingestochen haben. „Ich schrie um Hilfe und hämmerte an die Fensterscheibe der Eingangstür, nachdem ich das Messer gesehen hatte. Ich schützte mein Gesicht und den Hals mit dem Arm vor den Stichen“, berichtete Jessica R. im Zeugenstand vor der Ersten großen Strafkammer des Landgerichts unter Vorsitz von Richter Christian Singelmann.

Zwei Zeuginnen beobachteten die Auseinandersetzung von der anderen Straßenseite aus und verständigten die Polizei. Die Kollegin von Jessica R., die im Keller des Salons Handtücher wusch, wurde auf den Lärm aufmerksam und öffnete die Tür. „Ich sah, dass meine Kollegin Hilfe braucht und schloss die Tür auf. Ich schrie den Angreifer an und zog meine Kollegin zurück. Dann zog sie mich in den Laden und forderte mich auf, die Tür abzuschließen“, berichtete Sabine M. (29). Erst im Laden sah sie das Blut und verständigte einen Rettungswagen.

Angreifer soll gegen vorbeifahrendes Auto getreten haben

Der Friseursalon Jan Bracker an der Berliner Straße in Lauenburg: Hier ereignete sich am 5. Juni 2020 eine Messerattacke auf eine Mitarbeiterin. Der mutmaßliche Täter steht jetzt wegen versuchten Mordes vor Gericht. Er soll psychisch krank sein.
Der Friseursalon Jan Bracker an der Berliner Straße in Lauenburg: Hier ereignete sich am 5. Juni 2020 eine Messerattacke auf eine Mitarbeiterin. Der mutmaßliche Täter steht jetzt wegen versuchten Mordes vor Gericht. Er soll psychisch krank sein. © BGZ / Elke Richel | Elke Richel

Zwischenzeitlich wütete der Angreifer weiter und umklammerte den Arm von Hausfrau Christiane F. (43), die gerade aus dem Auto ausgestiegen war und bei Rossmann einkaufen wollte. „Den Streit auf der anderen Straßenseite hatte ich gesehen. Ich dachte es seien Mutter und Sohn“, sagte die Lauenburgerin, die dann plötzlich selbst Opfer wurde. Sie riss sich los, als sie das blutige Messer in der Hand des Angreifers sah, stürzte, rappelte sich wieder auf und flüchtete zu Rossmann.

Eine Mitarbeiterin schloss geistesgegenwärtig die Tür ab. Noch heute sei Christiane F. traumatisiert, wie sie gestern unter Tränen aussagte. „Sobald ich im Auto sitze, schließe ich die Türen von innen ab und sehe mich erst gründlich in alle Richtungen um, bevor ich aussteige“, sagte sie.

Kurz nach dem Angriff auf Christiane F. nahm die Polizei den Tatverdächtigen auf der Berliner Straße fest, nachdem er noch gegen ein vorbeifahrendes Auto getreten haben soll.

Mutmaßlicher Täter lebt seit Frühjahr 2020 in Lauenburg

Bei dem mutmaßlichen Täter handelt es sich um den 25-jährigen Michael R., der seit dem Frühjahr 2020 in Lauenburg lebt und gleich nach seiner Festnahme in das Klinikum Neustadt eingewiesen wurde – eine Fachklinik für psychische Erkrankungen. Besonders schwer waren die Folgen für Jessica R. Sie ist nach wie vor krankgeschrieben und kann den von den Messerstichen verletzten Finger an der rechten Hand nicht mehr richtig bewegen. In den Friseurberuf kann sie nach eigenen Worten nicht zurückkehren. Daher denkt sie über eine Umschulung nach.

Wie es zu dem Angriff kam, zu dem sich Michael R. nach Worten des Vorsitzenden Richters Christian Singelmann wohl weitgehend bekannt haben soll, muss das Gericht jetzt klären. Sowohl die Aussage des Angeklagten als auch die von Gutachterin Dr. Christine Heisterkamp fanden auf Antrag von R.s Rechtsanwalt Kai Wohlschläger unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Der Jurist befürchtete aufgrund der psychischen Erkrankung seines Mandanten eine Stigmatisierung. Diesem Antrag folgte die Kammer.

Seltsame Notizen über Kometen, Raumschiffe und Dinosaurier

Teile der Verhandlung sind nicht öffentlich.
Teile der Verhandlung sind nicht öffentlich. © Stefan Huhndorf | Stefan Huhndorf

Auch wenn die Aussage von Michael R. und das Gutachten von Dr. Christiane Heisterkamp nicht öffentlich wurden, lassen die Aussagen der ermittelnden Polizeibeamten und eines Nachbarn doch einige Rückschlüsse auf das Leben von R. zu. „Er hat nie gegrüßt, wir hatten keinen Kontakt. Aber einmal stand er auf dem Dach des Lieferwagens von unserem Apotheker“, so der Nachbar. Er will immer mal wieder Haschischgeruch aus Richtung der Wohnung des Angeklagten wahrgenommen haben.

Bei einer Durchsuchung der Wohnung entdeckten die Beamten benutzte Rauchgeräte für Haschischkonsum und Bücher, die sich mit der berauschenden Wirkung von Pflanzen sowie Esoterik befassen. Es habe nach Cannabis gerochen, so der Beamte. Drogen stellten die Polizisten aber nicht sicher. Dafür fanden sie jedoch jede Menge seltsamer Notizen über Kometen, Raumschiffe und Dinosaurier. In ihrer Anklageschrift hatte Oberstaatsanwältin Ulla Hingst dem Beschuldigten vorgeworfen, dass er unter Wahnvorstellungen leide und von ihm eine Gefahr ausgehe.

Prozess wird am 24. Februar fortgesetzt

Überhaupt wirkte die gesamte Wohnung karg, so der Ermittler – irgendwie unbewohnt. Auffällig war auch eine Überprüfung seines Handys durch die Polizei. Ende Mai 2020 hatte R. sämtliche Kontakte außer der Nummer seines Vermieters gelöscht. Zuvor hatte er relativ oft mit seinem Vater und seiner Mutter telefoniert. Einen Anruf vom 4. Mai 2020 bei der Einsatzleitstelle unter Notruf 110 haben die Fahnder nachverfolgen können. Dort habe Michael R. behauptet, „gebrainwasht“ worden zu sein. Er habe einen verwirrten Eindruck gemacht. Der Disponent in der Leitstelle sah jedoch keinen akuten Hilfsbedarf.

Der Prozess gegen Michael R. wird am Mittwoch, 24. Februar, um 9 Uhr vor dem Landgericht Lübeck fortgesetzt.