Geesthacht. Bewohner im Altenheim „Haus an der Sonne“ in Geesthacht schwelgen als Therapie beim gemeinsamen Backen in ihrer Kindheit und Jugend.
Es geht um das Erinnern, um das Erzählen aus dem eigenen Leben und um die Verbindung von gestern und heute. Das Reden über die Vergangenheit hält wach. Julia Eggers weiß das. Die
Betreuungskraft der Geesthachter Altenpension Haus an der Sonne in der Schillerstraße organisiert regelmäßig Events für die Bewohner, um das Erinnern aktiv anzuregen. Dazu gehört auch das Kuchenbacken, das Schneiden von Obst, den Teig rühren und vor allem das Erzählen von früher, was immer dann besonders angeregt wird, wenn alte Familienrezepte auf dem Programm stehen. So wie heute.
Fünf Frauen und ein älterer Herr versammeln sich nach und nach am ovalen Tisch im Aufenthaltsraum der Altenpension. „Heute backen wir zwei verschiedene Apfelkuchen, ein Hausrezept von Ingrid Oltmann, und einen Tassenkuchen“, kündigt Julia Eggers an und verteilt Äpfel auf dem Tisch. Es dauert keine zwei Minuten, da sind die Frauen eifrig und routiniert am Schnibbeln. Werner Kruse hat einen anderen Auftrag. Früher war er Steinmetz, heute ist er für das Rührgerät zuständig, das ihm Julia Eggers in die Hand drückt. „Mein Einsatz“, sagt der 93-Jährige schelmisch und mit unverkennbarem Hamburger Akzent.
Stimmung schwankt zwischen Konzentration und Ausgelassenheit
Die Stimmung schwankt zwischen Konzentration auf das Tun und Ausgelassenheit. Der Tenor der Erzählungen ist eindeutig: Kuchen backen war in Kriegs- und Nachkriegszeit etwas ganz Besonderes, ein Highlight für die Heimbewohner, die damals Kinder waren. Es gab kaum Zutaten. „Bei uns gab es immer Streuselkuchen“, erinnert sich Ingrid Oltmann.
Lebhaft erzählt die 82-Jährige, wie ihre Mutter nach dem Krieg mit dem Blech zum Bäcker ging und es dort backen ließ. „Einen eigenen Ofen hatten wir ja nicht!“, sagt sie. „Ach ja, stimmt. So war das!“, fällt Waltraud Elvers ein. Sie hat seit dem Tod ihres Mannes vor 20 Jahren nicht mehr gebacken. Am liebsten mochte sie den Puffer. „Ich auch!“, ruft Ingrid Oltmann.
Kuchen ist Genuss, viele positive Erinnerungen
„Puffer? Was ist das?“, frage ich ratlos, und alle lachen. Ein Topfkuchen, Guglhupf, schallt es mir entgegen. „Den backen wir auch gleich“, klärt Julia Eggers auf. „Wir haben meist die Früchte verbacken, die weg mussten“, wirft Anneliese Scheidtmann leise in die lebhafte Runde ein. Pflaumen, Äpfel. Birnen. Marie-Luise Weiß erinnert sich an die Aufregung als junges Mädchen, wenn die Großmutter einen Kuchen ankündigte.
„Kennt ihr noch kalten Hund?“, fragt Ingrid Oltmann. Alle nicken und schon reden aufgeregt durcheinander. „Das war doch mit den Butterkeksen?“, heißt es in die Runde: „Ja, und Palmin und Schokolade!“ Die Augen der Senioren leuchten.
Es wird schnell deutlich, dass Kuchen schon immer mehr war als nur ein Nahrungsmittel. Er ist Genuss, meist verknüpft mit positiven Erinnerungen. Gerade für diese Generation ein Lichtblick in einer lange dunklen Zeit. Aber melancholisch? Wird hier niemand. Es ist vielmehr eine gemeinschaftliche Vergangenheitsschau mit der Einsicht, dass sich, so unterschiedlich die Biografien sind, doch viele Erlebnisse ähneln. Bedingt durch Krieg und Vertreibung. Viele von ihnen kamen neu nach Geesthacht.
Erinnern macht lebendig und regt das Denken an
Die eigene Identität hängt an der Erinnerung – das ist wissenschaftliche erwiesen. Wer sich an schöne Stunden aus Kindheit und Jugend erinnert, kann damit das Hier und Jetzt kompensieren, mit all den Einschränkungen des Alters.
Aus dem Grund lässt sich Julia Eggers immer wieder etwas Neues einfallen, um die Bewohner zum Erinnern
und Erzählen anzuregen. Ob es nun Backrezepte sind, Kleider aus verschiedenen Jahrzehnten oder andere kreative Ideen. „Das Reden über die Vergangenheit ist tatsächlich eine Art Therapie“, erklärt die 53-Jährige. Es macht lebendig, regt das Denkzentrum an.
Die Biografien der Senioren berühren. Wenn Ingrid Oltmann ihre Abneigung gegenüber Rhabarber erläutert, den sie als Kind im Lager am Grünen Jäger pflücken musste und der mit Kartoffelschalen gekocht wurde. Oder wie Waltraud Elvers beengt in einer kleinen Kammer auf Strohsäcken schlafen musste. „Das war eben unser Leben“, sagt Ingrid Oltmann. „Das ist unser Leben“, wendet Marie-Luise Weiß ein: „Wir sind ja noch da!“
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Und plötzlich er doch da, der eine Moment, in der alles still ist. Aber nur für einen Wimpernschlag. Ein unhörbares Ausatmen, bevor die lebhafte Unterhaltung der sechs fortgesetzt wird – weg von den Kuchen, die bereits auf dem Weg in den Ofen sind, und weg von der Vergangenheit hin zum baldigen Mittagessen. Ganz im Hier und Jetzt.