Geesthacht. Tschernobyl Finanzministerin Monika Heinold gedenkt der AKW-Katastrophe – Bettina und Gerhard Boll öffnen Sonntag ihr Archiv
„Eigentlich sollte es unsere Küche sein. Nun ist diese woanders“, sagt Gerhard Boll und lächelt verschmitzt, während er nicht ohne Stolz in den Raum an der Bergstraße 38 deutet. In ihrem Privat-Archiv haben er und seine Frau Bettina ihren ganz persönlichen Anti-Atomkraft-Kampf dokumentiert. Wände und Fenster sind mit Protest-Plakaten tapeziert, in Ordnern finden sich Flyer, Urkunden, Zeitungsberichte, AKW-Baupläne und Fotos. In den Regalen stehen Fachbücher und Atommüll-Dosen, Aufkleber und bemalte Bettlaken zeugen von Demos, Protestaktionen und -gottesdiensten in der Innenstadt und vor den Toren des Kernkraftwerks Krümmel. „Sowas gibt’s nur bei Bettina“, lacht Bettina Boll und blättert in dicken Ordnern – über die Schulter schaut ihr dabei ein besonderer Gast: Schleswig-Holsteins Finanzministerin Monika Heinold (Grüne) tauchte zusammen mit den Bolls und Annedore Granz (Ortsvorsitzende der Grünen) in das wohl größte private Anti-AKW-Archiv Geesthachts ein – und das können Interessierte am Sonntag auch. Denn dann öffnen Bettina und Gerhard Boll wieder für Besucher ihr Haus.
Kleine und große Schriftzüge Hiroshima, Tschernobyl, Fukushima, immer wieder mit Krümmel garniert, stechen ins Auge. Unzählige spannende Geschichten und Begebenheiten werden wieder lebendig, wenn die Bolls loslegen und erzählen. Dazu laden sie alle interessierten Geesthachter für Sonntag, 23. April, von 11 bis 17 Uhr anlässlich des 31. Jahrestages der Tschernobyl-Katastrophe vom 26. April 1986 in ihr Refugium an der Bergstraße 38 ein. Das Motto: „Anti-AKW-Archiv – eine AUS-Stellung 1976-2017“. 2006 haben die Bolls ihre Privatsammlung in einen eigenen Raum verlegt. Dort lagern inzwischen nicht nur Dokumente aus ihrem eigenen aktiven Widerstand seit 1981, sondern auch Schätze, die ihnen zugetragen worden sind. Regelmäßig wird umdekoriert – „Wir haben immer das Neuste da. Und wir freuen uns über jeden Gast, hoffen auf regen Besuch und anregende Gespräche“, sagt Bettina Boll, die wie ihr Mann Gerhard für die Grünen in der Geesthachter Ratsversammlung sitzt. Ihre persönliche Erinnerung an die Tschernobyl-Katastrophe: „Die Welt, die aussah wie immer, war auf einmal gefährlich“, beschreibt Bettina Boll das beklemmende Gefühl im April 1986. Jeder Regenguss, jedes Sandkorn – nichts war mehr so ungefährlich, wie es mal war.
Und auch für Schleswig-Holsteins Finanzministerin Monika Heinold sind Tschernobyl, die Lebensgefahr durch Atomkraftwerke und der Moment, in dem sie von der Katastrophe vor 31 Jahren erfahren hat, sehr präsent. „Ich kann mich sehr genau daran erinnern, wie uns die Nachricht von Tschernobyl geschockt und gelähmt hat. Mich ganz besonders, denn ich war hochschwanger, habe am 5. Mai unseren ersten Sohn geboren“, erinnert sich die Grünen-Landespolitikerin. „Die Atmosphäre im Krankenhaus war furchtbar. Kein Arzt war in der Lage zu sagen, ob und wie wir nach draußen gelangen werden. Mein Mutterinstinkt war richtig gereizt…“
Am 26. April 1986 war ein Test in Tschernobyl (Ukraine) außer Kontrolle geraten, Reaktor 4 explodierte. Eine radioaktive Wolke breitete sich von der damaligen Sowjetrepublik über Weißrussland und Teile Russlands auch bis nach Westeuropa aus. Bis heute gelten manche Landstriche als verstrahlt. 30 Jahre nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl wurde Ende 2016 die Atomruine mit einer mehr als 36 000 Tonnen schweren Schutzhülle verschlossen. Sie soll einen Betonsarkophag ergänzen, der von der Sowjetunion nach der Kernschmelze errichtet worden war, und so 100 Jahre Sicherheit vor der tödlichen Strahlung garantieren. Bundesumweltministerin Barbara Hendricks würdigte die Leistung der Ingenieure, die Probleme in Tschernobyl seien damit aber nicht gelöst. Deutschland hat sich laut Umweltministerium mit etwa 200 Millionen Euro am Bau der Schutzhülle beteiligt.