Geesthacht. 20 Jahre nach dem Möllner Anschlag ist die rechtsextreme Szene in Schleswig-Holstein aktiver als viele denken. Sie sei sogar äußert dynamisch und selbstbewusst, wie der Autor und Journalist Andreas Speit am Donnerstagabend bei einem Vortrag über Rechtsextremismus vor Augen führte.
Die Taten lösten Abscheu aus, bewegten Menschen in der ganzen Welt: Zum 20. Mal jährten sich gestern die Brandanschläge von Mölln. Die Morde zweier Rechtsextremer sorgten für ein Umdenken – mit Menschenketten setzten Hunderttausende damals ein Zeichen gegen die wieder erstarkenden Neonazis, Aufklärung und Bündnisse gegen Gewalt setzten fortan dem rechten Mob Schranken. Doch 20 Jahre nach den Möllner Anschlägen ist die rechtsextreme Szene in Schleswig-Holstein aktiver als viele denken.
„Die Szene hat sich gewandelt. Glatzen, Bomberjacken und Springerstiefel sieht man heute nicht mehr“, sagte Speit, der seit fast 20 Jahren im Norden über das Thema Rechtsextremismus recherchiert. „Die Anhänger sind heute viel modischer, dynamischer. Oft sind sie stylish gekleidet, sogar T-Shirts mit englischen Parolen sind nicht mehr verpönt.“ Statt dumpf, alkoholisiert und gewaltbereit in der Öffentlichkeit, agieren die Rechtsextremen in Schleswig-Holstein heute organisiert im Verborgenen – und genau das mache sie gefährlich. „Gerade bei der rechtsextremen Terrorzelle NSU haben wir gesehen, wie hochgradig professionell und politisch überzeugt vorgegangen wurde“, so Speit.
„Wir haben heute eine politische Szene, die an Infoständen auf sich aufmerksam macht und gleichzeitig ein sehr gefestigtes Netzwerk im Hintergrund, das nicht politisch auftritt oder sonst in Erscheinung tritt. Dabei habe ich kein gutes Gefühl“, so Speit. In Schleswig-Holstein gebe es derzeit nach Beobachtungen etwa 200 NPD-Mitglieder, dazu eine etwa 700 Köpfe starke rechtsextreme Subkultur sowie 150 Neonazis, die in Kameradschaften organisiert sind. Junge Leute finden weiterhin vielfach Zugang über Musik. „In Schleswig-Holstein haben wir es aber auch mit einer Sondersituation zu tun“, führte der „taz“-Redakteur weiter aus. „Hier gibt es viele ältere Menschen, die früher in der Hitlerjugend oder in der Wehrmacht waren und die der Szene heute eine breite Rückendeckung bieten. Beispielsweise, indem sie Räume oder ganze Gutshöfe zur Verfügung stellen.“ Dies sei häufig auch der fehlenden Geschichtsaufarbeitung nach dem Krieg geschuldet.
Ein Dreh- und Angelpunkt der Szene ist weiterhin die NPD. „Wir beobachten eine strategische Umorientierung und eine ideologische Neuausrichtung der Partei“, sagt Speit. So widme sich die NPD mittlerweile Themen der Straße wie Hartz IV oder Altersarmut – statt über den Holocaust zu debattieren. „Die NPD tritt auf als die Partei der Kümmerer“, betont Speit. Und in diesem Konzept spielt auch Geesthacht eine Rolle – so sieht Speit den Geesthachter und NDP-Kreisvorsitzenden Kay Oelke als einen wichtigen Kopf der Partei im Norden. „Kay Oelke versucht sich genau so zu präsentieren, wie die NPD es will: Er kümmert sich um die kleinen Leute“, sagt Speit. „Er ist kein großer Redner, aber genau so erreicht er seine Leute, weil er nicht so professionell wirkt wie andere Politiker“, so Speit. Und genau über diese nahbare Art führe er Menschen an die rechte Ideologie heran. „Die Partei weiß genau, dass sie ein schlechtes Image hat. Aber wenn sie Leute haben, die vor Ort akzeptiert sind, holt sie trotzdem Stimmen.“ Und das sei für die NPD immens wichtig: Laut Speit sichere sie 48 Prozent ihrer Einnahmen durch Steuermittel. „Man sollte sich hüten, den Abgesang der NPD einzuleiten oder die Partei zu verharmlosen.“
Ein Abend mit vielen Informationen, der bei großen Teilen des Publikums für Betroffenheit und Nachdenklichkeit sorgte. Wie wichtig die Aufarbeitung ist, zeigte die anschließende Diskussion. So drohte der Abend nach einer anfänglichen Debatte über NPD-Verbot und weitere Aspekte zu kippen, nachdem eine kleine Gruppe älterer Zuhörer den Rechtsradikalismus als mediale Hetze bagatellisierte, oder das Thema Kriegsschuld auf die Agenda heben wollte. Eine Diskussion, die die einleitenden Worte des Abends noch einmal deutlich vor Augen führte: „Es ist wichtig, dieses Thema weiter aufzuarbeiten. Denn was unaufgearbeitet in vielen Köpfen spukt, ist Gift für die Demokratie – und Nährboden für Rechtsextremismus“, sagte Stadtarchivar William Boehart, der den Abend zusammen mit der Volkshochschule Geesthacht und weiteren Partnern initiiert hatte.