Landkreis Harburg. Kriminalität: Opferschutz-Verein Weisser Ring braucht dringend Verstärkung. Zahl der Hilfesuchenden ist um 42 Prozent gestiegen
Ob bei häuslicher Gewalt, sexuellem Missbrauch, Betrug, Nachstellung, Bedrohung, Raub, Diebstahl, Mord oder Totschlag: Ehrenamtliche Helfer des Vereins Weisser Ring stehen Opfern von Straftaten zur Seite. Sie bieten Traumatisierten ein offenes Ohr, zeigen Wege aus der Misere auf, Begleiten zu Anwälten, Gerichtsterminen sowie Behörden und überbrücken zuweilen mit Geldmitteln durch Straftaten entstandene finanzielle Engpässe.
Doch jetzt suchen die Helfer auch selbst Hilfe. Die Teams ehrenamtlicher Opferbetreuer brauchen dringend Zuwachs, denn die Zahl der Hilfsgesuche steigt stark, zumindest im Kreis Harburg. Im Jahr 2022 waren die Ehrenamtlichen des Weissen Rings hier für 111 Opfer aktiv. Im Jahr 2023 suchten bereits 158 Landkreis-Bewohner nach einer Straftat Beistand beim Opferschutz-Verein. Das bedeutet eine Steigerung von 42 Prozent.
Erhöhte Nachfrage spiegelt nicht zunehmende Kriminalitätsraten wider
Die erhöhte Nachfrage spiegelt glücklicherweise nicht zunehmende Kriminalitätsraten wider. Sie sei vor allem Folge wachsender Bekanntheit des Weissen Rings und nochmals intensivierter Zusammenarbeit mit der Polizei, erklären Vera Theelen und Michael Kropp, die seit sechs Jahren als Opferhelfer im Weissen Ring tätig sind und seit fast zwei Jahren gemeinsam die Außenstelle im Landkreis Harburg leiten.
Durch ihre vielfältigen Aktivitäten der Öffentlichkeitsarbeit, etwa durch Präsenz in verschiedenen Medien, durch Infostände auf Märkten und Festen, durch Präventionsarbeit in Sportvereinen, durch Kontaktpflege zu Seniorenheimen und Krankenhäusern, erreichen Theelen, Kropp und ihr Team immer mehr Opfer. Dennoch: „Es gibt mit Sicherheit ein großes Dunkelfeld, das noch nicht beackert ist.“
Ist es sinnvoll, die Finsternis weiter zu erhellen und damit die Nachfrage zu erhöhen?
Derzeit stellen sich Michael Kropp und Vera Theelen die Frage: Ist es sinnvoll, die Finsternis weiter zu erhellen und damit die Nachfrage nach Hilfe weiter zu erhöhen? So vielen Menschen wie möglich zu helfen, ist Aufgabe des gemeinnützigen Vereins. Aber noch mehr Hilfseinsätze würden die Freiwilligen-Mannschaft möglicherweise an ihre Grenzen bringen. Noch hat die mit 16 Mitgliedern zweitstärkste Helfer-Truppe unter den 42 Weisser-Ring-Außenstellen Niedersachsens der wachsenden Herausforderung Stand gehalten. Auf jedes Hilfegesuch folgte die Rückmeldung des Weissen Rings binnen 48 Stunden. Das soll, sagen Theelen und Kropp, unbedingt so bleiben.
Deshalb suchen sie dringend weitere Mitstreiter. Alle interessierten Einwohner aus dem Landkreis-Harburg, ob männlich oder weiblich, noch jung oder schon älter, sind hoch willkommen, sofern sie die für das Amt nötige Empathie mitbringen und menschlich ins bestehende Team passen. „Unsere Gruppe bietet einen harmonischen Mix ganz unterschiedlicher Persönlichkeiten“, schwärmt Vera Theelen.
Sechs Männer und zehn Frauen leisten aktuell im Kreis Harburg Gewaltopfern Beistand
Die sechs Männer und zehn Frauen, die aktuell im Kreis Harburg in ihrer Freizeit Gewaltopfern Beistand leisten, sind im Alter zwischen Anfang 20 und Anfang 70, der Großteil der Engagierten ist in den 50ern. So vielfältig wie das Altersspektrum ist auch der berufliche Hintergrund: Juristen, Banker, Naturwissenschaftler, Kaufleute, Pflegekräfte sind darunter. „Und drei Polizisten“, sagt Michael Kropp.
Der 66-Jährige war selbst Polizeibeamter und somit ein Leben lang mit Kriminalitätsopfern befasst. Ihm lag dieses Ehrenamt also von je her nahe. Vera Theelen, 69, die lange in der Suchtberatung tätig war, suchte nach Ende ihrer Berufstätigkeit eine erfüllende Aufgabe, die Kontakt zu Menschen bietet, eigenständige zeitliche Einteilung ermöglicht, Kreativität in der Gestaltung der Tätigkeit erlaubt, die fordert und fördert und nicht zuletzt Erfolgsgefühle vermittelt. „All das bietet das Ehrenamt beim Weissen Ring, denn dadurch, dass wir keinerlei staatliche Unterstützung bekommen, sondern uns ausschließlich aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden und Nachlässen finanzieren, sind wir sehr frei in unserer Arbeit. Und die Dankbarkeit der Opfer ist für mich ein wunderbarer Lohn für meinen Einsatz.“
Dankbarkeit der Opfer ist wunderbarer Lohn für ehrenamtlichen Einsatz
„Es gibt bei der Opferhilfe Bedarf ohne Ende“, wissen Vera Theelen und Michael Kropp. Beide brennen für ihr Ehrenamt, haben es quasi zum Fulltime-Job gemacht. „Keine Angst, die anderen Teammitglieder sind weniger eingespannt. Ihr Einsatz beschränkt sich meist auf eine Handvoll Stunden pro Woche“, lachen die beiden. Grundsätzlich gelte: Privates geht immer vor. „Wenn ein Teammitglied gerade beruflich oder familiär stark gefordert ist, ruht das Ehrenamt eben vorübergehend“, erläutert Michael Kropp.
Wer mit welchem Fall beauftragt wird, entscheidet meist Vera Theelen und nimmt dabei Rücksicht auf persönliche Grenzen. „Wir haben beispielsweise ein Teammitglied, das nicht mit Kindesmissbrauch konfrontiert werden möchte und das akzeptieren wir selbstverständlich.“ Auch auf die Belange der Opfer wird Rücksicht genommen. „Bei Sexualdelikten vermitteln wir fast ausschließlich Helferinnen, weil die meisten Opfer nicht mit Männern sprechen möchten.“ Fast immer kümmern sich zwei Unterstützer gemeinsam um ein Opfer. Das gibt beiden Seiten Sicherheit, erweitert die Perspektive auf den Fall und wenn einer der Helfer verhindert ist, bleibt dem Geschädigten immer noch ein bekannter Ansprechpartner.
Zuweilen begleiten die Helfer Opfer zur Polizei, zu Rechtsanwälten und Gerichtsterminen
Die Helfer sollten über juristische und psychologische Grundkenntnisse verfügen, denn sie sind „Lotsen im Hilfesystem“. Diese Basics und weiteres Handwerkszeug werden den zukünftigen Ehrenamtlichen in zwei Wochenend-Seminaren vermittelt. Die Ehrenamtlichen verweisen fallbezogen an Rechtsanwälte, Psychologen oder an andere Stellen des Hilfe-Netzwerks, führen selbst jedoch keine Fachberatung durch. Zuweilen begleiten die Helfer Opfer zur Polizei, zu Rechtsanwälten und Gerichtsterminen, denn das ermöglicht den Betroffenen, ihre Anliegen auf professionelle Weise vorzubringen und stärkt ihre psychische Stabilität.
Vorrangiges Ziel sei es, die Hilfsbedürftigen schnellstmöglich wieder aus ihrer Opferrolle herauszuholen und sie zu eigenverantwortlichem Handeln zu bewegen, erläutert Michael Kropp. „Das Opfer muss lernen, mit den unmittelbaren Folgen der Straftat klarzukommen. Dazu entwickeln wir gemeinsam einen Plan, zeigen mögliche Wege auf. Bei Bedarf ziehen wir Psychologinnen und Anwälte hinzu.“ Im vergangenen Jahr übernahm die Außenstelle Kreis Harburg die Kosten für 40 psychotraumatologische und 44 anwaltliche Erstberatungen. „Wir signalisieren den Opfern: Du bist nicht allein!“
Die Tätigkeit des Opferhelfers sei „kein Hexenwerk“, versichert Michael Kropp. Dennoch legt der Weisse Ring großen Wert auf Aus- und Weiterbildung seiner bundesweit 2700 ehrenamtlich Mitarbeitenden und hat dazu eine eigene Akademie, die jährlich etwa 100 Seminare anbietet.„Wir nehmen pro Jahr grundsätzlich an zwei Wochenendseminaren teil und empfinden das als große fachliche und menschliche Bereicherung. Denn alle sind ja freiwillig und aus eigenem Interesse da“, sagt Vera Theelen.
Wer sich für die Mitarbeit im Weissen Ring interessiert, darf nach einem ersten Orientierungs-Gespräch mit Vera Theelen und Michael Kropp erfahrene Opferhelfer bei deren Einsätzen begleiten, um abzuschätzen, ob ihm die Aufgabe liegt. Es ist auch möglich, den Verein jenseits der Opferhilfe zu unterstützen, etwa im Bereich Prävention und Öffentlichkeitsarbeit, durch Mitgliedschaft oder Spenden. Infos www.harburg-kreis-niedersachsen.weisser-ring.de Telefon:0151 551 647 33.
Auch im Bezirk Harburg ist der Weisse Ring vertreten. Auch hier werden Unterstützer gesucht
Lokaler Ansprechpartner für Kriminalprävention und Opferhilfe in Altenwerder, Cranz, Finkenwerder, Harburg, Hausbruch, Heimfeld, Neugraben, Rothenburgsort, Veddel, Wilhelmsburg und Wilstorf ist die Außenstelle Hamburg-Süderelbe. Dort bearbeiteten sieben aktive Ehrenamtliche im vergangenen Jahr 122 Opferfälle, überwiegend aus den Deliktbereichen Körperverletzung (35), Sexualdelikte (25) und Diebstahl (21). Aber auch in den Bereichen Nachstellung, Einbruch, Raub, Tötungsdelikte, Bedrohung wurden Opfer unterstützt. Auch der Weisse Ring Hamburg-Süderelbe braucht dringend Unterstützung. Kontakt: Telefon 04105/6766509.