Tansania/Buxtehude. Vom Zauber der Geburt und anderen (Lebens-)Umständen: Was Charis Vokrap in Tansania als Hebamme bei den Massai-Frauen erlebte
Charis Vokrap ist verliebt. In ein Land. Und in dessen Menschen. Die 23-Jährige liebt Tansania. „Die Herzlichkeit der Menschen dort hat es mir sofort angetan. Ich habe so etwas vorher noch nie erlebt“, sagt die junge Frau aus Buxtehude, die in den vergangenen Monaten als Hebamme in dem afrikanischen Land arbeitete. In einer tansanischen Klinik und bei den Massai. „Das war die bisher prägendste Zeit in meinem Leben. Ich war noch nie so glücklich wie dort, obwohl ich viel Schlimmes gesehen habe“, sagt sie.
Die blonde Frau hat eine Gabe. Sie kann sich öffnen. Auf Menschen zugehen. Sie hat wenig Berührungsängste. Das kann helfen – im Leben, im Beruf und vor allem in einem Land, in dem so ziemlich alles anders ist als daheim. Oder auch nicht: „Auf der einen Seite wird in den verschiedenen Kulturen mit Schwangerschaft und Geburt sehr unterschiedlich umgegangen. Auf der anderen Seite ist die Geburt eines Kindes für die Frauen überall gleich einzigartig und bedeutend. Das verbindet uns alle“, sagt die Hebamme.
Ihre Ausbildung hat die junge Hebamme in Harburg absolviert
Sie hat nach dem Abitur am Gymnasium Neu Wulmstorf im dualen Studiengang Hebammenwissenschaften studiert und ihre Ausbildung in der Helios Mariahilf Klinik in Harburg absolviert, wo sie Frauen aus vielen unterschiedlichen Kulturkreisen betreute. In ihrer Bachelor-Arbeit beschäftigte sie sich mit der geburtshilflichen Betreuung von Migrantinnen mit Fluchterfahrung.
Charis Vokrap geht es darum, über den beruflichen Tellerrand hinauszublicken. Deshalb kündigte sie den sicheren Job in der Klinik und zog Anfang des Jahres hinaus in die Welt. Nach Tansania. Dort arbeitete sie in der Geburtshilfe des Meru District Hospital von Arusha. „Das war eine komplett andere Welt“, sagt sie. „Du kommst aus dem einen Extrem mit einer Geburtshilfe, in der alles, aber auch alles kontrolliert wird, und bist plötzlich in dem anderen Extrem, in dem Kontrollen fast gänzlich fehlen.“
„Ich habe noch nie so viele starke Frauen getroffen!“
Die Begegnungen mit den Frauen waren sehr ergreifend, erzählt Charis Vokrap. Jegliche Fürsorge, die in Deutschland während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett normal sei, werde dort als etwas sehr besonderes wahrgenommen. „Ich habe noch nie so viele starke Frauen getroffen, die ihre Wehen ohne jegliche Schmerzmedikation oder Begleitung verarbeiten“, so die Hebamme.
Wenn die Frauen dann endlich in den sogenannten „Kreißsaal“ kommen – nach hiesigen Maßstäben hat der unwirtliche Raum die Bezeichnung eigentlich nicht verdient - bekommen sie meistens innerhalb von wenigen Wehen ihre Kinder. „Fünf Minuten später verlassen sie bereits den Kreißsaal. Danach wird die schmutzige Wäsche gewaschen und aufgehängt.“
Hygienische Umstände sind mit denen in Deutschland nicht zu vergleichen
Nicht nur die hygienischen Umstände sind mit denen in Deutschland nicht zu vergleichen. „Ich habe viele Notfallsituationen erlebt, die mir so noch nie begegnet sind“, sagt Charis Vokrap. „Es ist schwer zu verstehen, wieso Kinder und Frauen sterben – aufgrund von mangelnden Ressourcen und fehlendem Wissen.“ Was für Charis Vokrap in der staatlichen Klinik ebenfalls kaum zu ertragen war, war die Respektlosigkeit, die oftmals gegenüber den gebärenden Frauen an den Tag gelegt wurde. „Da stehen irgendwelche Leute im Kreißsaal herum, es wird gequatscht, mit dem Handy telefoniert oder die Putzfrau kommt zwischendurch rein.“ Die klinische Geburtshilfestation sei für viele Frauen kein Ort, an dem sie sich sicher und geborgen fühlen könnten. „Einmal hat eine Frau zu mir gesagt: ,Gott sei dank kann ich diesen schlimmen Ort lebend verlassen“, berichtet die junge Hebamme.
Frau benannte ihre Tochter nach der jungen Buxtehuderin
Dennoch sei jeden Tag an der Klinik, wo mit so wenig Mittel gearbeitet werden müsse, lehrreich gewesen. Und vor allem die zwischenmenschlichen Erfahrungen waren für Charis Vokrap einzigartig: „Ich habe Freundschaften geschlossen, ungeplante Zwillingsgeburten betreut und gesunde Kinder auf die Welt begleitet. Und eine Frau hat ihr Baby nach mir benannt. Das war eine sehr große Ehre und Freude für mich.“
Noch weniger Unterstützung während der Schwangerschaft und bei der Geburt erhalten die Frauen in den Dörfern der Massai. Sie leben in kleinen Einheiten in der Steppe Nordtansanias und haben kaum Zugriff auf medizinische Betreuung. Das Dasein der Massai-Frauen ist bestimmt von der Fürsorge für die Familie - und der Unterordnung im Patriarchat. Wenn eine Frau das 12. bis 16. Lebensjahr erreicht hat, wird sie verheiratet und zuvor beschnitten. Die Männer sind meist mit mehreren Frauen verheiratet und stehen ihren Familien vor. Massai-Frauen bekommen nicht selten fünf bis zehn Kinder, weiß die Hebamme. „Einige werdende Mütter sind erst 13 oder 14 Jahre alt. Wie hoch die Mütter- und Säuglingssterblichkeit ist, lässt sich nur erahnen“, so Charis Vokrap.
Massai-Frauen kriegen ihre Kinder ausschließlich zuhause
Dem wollte die Geburtshelferin etwas entgegensetzen und wendete sich mit ihrem Anliegen an Juma Amuko, Mitarbeiter einer Hilfsorganisation und Sozialarbeiter, der bei den Massai über HIV und Genitalverstümmelung aufklärt. Über ihn erhielt Charis Vokrap die Chance, ein eigenes Projekt bei den Massai auf die Beine zu stellen. „Die Massai-Frauen kriegen ihre Kinder ausschließlich zuhause, und ich wollte sie in diesem Rahmen auch abholen“, sagt Charis Vokrap. So fuhr sie nach dem Dienst in der Klinik im „Daladala“, wie die öffentlichen Kleinbusse in Tansania genannt werden, noch stundenlang in die Massai-Dörfer, um dort Workshops über Hausgeburtshilfe anzubieten – im Gepäck hatte sie aus Spendengeldern finanziertes medizinisches Material dabei, wie Nabelklemmen, Desinfektionsmittel, sterile Handschuhe, Blutdruckgeräte, Thermometer, Antibiotika oder Nahtmaterial.
Am Anfang schlug der Hebamme – fremd, jung und selbst noch keine Mutter – Skepsis entgegen. Bei den Massai nehmen die ältesten Frauen im Stamm die Hebammen-Rolle ein. Doch das Angebot der blonden Europäerin sprach sich schnell herum, die Frauen nahmen teils weite Fußwege auf sich, um an den Workshops von Charis Vokrap teilzunehmen. „Meine Anspannung war am Anfang groß. Ich wusste nicht, ob diese Frauen, die eine Tradition leben, von der ich nur ansatzweise Kenntnisse hatte, mich überhaupt respektieren würden. Doch die Resonanz war mehr als positiv. Und mir wurde wieder klar, dass die Geburt eine Sache ist, die uns alle verbindet – unabhängig von der Farbe der Haut oder dem Glauben im Herzen“, sagt sie.
Vertrauen in die Geburtshelferin aus Buxtehude wuchs schnell
Das Vertrauen in die Geburtshelferin aus Buxtehude wuchs schnell. Teilweise drängten sich 250 Frauen mit ihren Kindern in einem kleinen Klassenraum, um ihr zuzuhören. Sie erhielten praktische Tipps für mehr Sicherheit während Schwangerschaft und Geburt, lernten, wie man den Blutdruck misst, nahmen an einer ersten Schwangerschaftsvorsorge teil. Und die Stammesältesten ließen sich den Umgang mit den mitgebrachten Materialien erklären – ein großer Vertrauensbeweis.
Nach ihrer Rückkehr blickt Charis Vokrap voller Dankbarkeit auf ihre Zeit in Afrika. „Ich war nicht dort, um zu belehren, sondern habe vor allem selbst sehr viel gelernt“, sagt sie. Zum Beispiel über Privilegien: „Welches Leben wir leben und welche Chancen wir ergreifen können, ist leider absolut davon abhängig, wo wir geboren wurden“, sagt die Hebamme. „Keiner der Menschen, die ich in Tansania kennengelernt habe und vermutlich auch keines der Kinder, die ich auf die Welt begleitet habe, kann die Chancen ergreifen, die ich ergreifen kann.“
Mit dieser Erkenntnis will sie ihre Möglichkeiten nutzen. Will noch eine Weile die Welt erkunden. Erst Costa Rica, dann Europa. Sie möchte eine Ausbildung zur Yoga-Lehrerin machen. Plant, sich zum Ende des Jahres in Buxtehude mit einer Hebammen-Praxis selbstständig zu machen. Auch will sie unbedingt weiter in Hilfsprojekten arbeiten – zum Beispiel in der Betreuung von geflüchteten Frauen in Deutschland.
Und sie möchte immer wieder nach Tansania zurückkehren. In das Land, in das Charis Vokrap verliebt ist.