Winsen/Lüneburg. Niedersachsens Datenschützer akzeptieren das Urteil zur digitalen Überwachung von Amazon-Beschäftigten in Winsen nicht. Was jetzt passiert.

Mit seinem Urteil stellte das Verwaltungsgericht Hannover im Februar klar: Amazon darf die Mitarbeiter des Logistikzentrums in Winsen (Landkreis Harburg) dauerhaft digital überwachen. Ein Verbot dieser Arbeits- und Leistungskontrolle per Scanner – im Jahr 2019 ausgesprochen von Niedersachsens Datenschutzbehörde – hob das Gericht damit vorerst auf. Ob dieser Richterspruch Bestand hat, entscheidet sich nun in nächster Instanz in Lüneburg.

Denn die Landesdatenschutzbeauftragte (LfD) Barbara Thiel hat gegen das Urteil Berufung eingelegt, wie die Behörde und das zuständige Oberverwaltungsgericht auf Abendblatt-Nachfrage bestätigen. Welche Punkte die Datenschützer genau anfechten möchten, ist noch nicht bekannt. Eine Berufungsbegründung werde zurzeit erstellt, so ein LfD-Sprecher.

Im Abendblatt berichteten mehrere Mitarbeiter über massiven Druck

Für eine aktuelle Stellungnahme war die Leiterin der Aufsichtsbehörde nicht bereit. Nach der Urteilsverkündung im Februar hatte sich Thiel per Pressemitteilung so geäußert: „Ich bin nach wie vor der Auffassung, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter überwiegt.“ Der durch die minutengenaue Leistungsdatenerhebung sowie deren weitere Verarbeitung entstehende Anpassungs- und Leistungsdruck sei aus ihrer Sicht höher zu gewichten als das wirtschaftliche Interesse des Unternehmens.

 Andrea Reccius (M), Vorsitzende Richterin, sitzt im Amazon Logistikzentrum in Winsen im Verhandlungsraum. Das Verwaltungsgericht Hannover verhandelte zunächst darüber, ob die ständige Kontrolle der Mitarbeiter beim Online-Händler Amazon rechtens ist.
Andrea Reccius (M), Vorsitzende Richterin, sitzt im Amazon Logistikzentrum in Winsen im Verhandlungsraum. Das Verwaltungsgericht Hannover verhandelte zunächst darüber, ob die ständige Kontrolle der Mitarbeiter beim Online-Händler Amazon rechtens ist. © dpa | Daniel Bockwoldt

Im Abendblatt berichteten Anfang des Jahres mehrere Mitarbeiter des Winseners Logistikzentrums, dass die kleinteilige Kontrolle der Arbeitsschritte mit einer individuellen Paketrate Mitarbeiter massiv unter Druck setze. Das Unternehmen wies die Vorwürfe von sich und beschrieb das Vorgehen als konstruktive Feedback-Kultur. Es handele sich um ein branchenübliches, gesetzeskonformes Warenwirtschaftssystem. „Bei Amazon haben die Sicherheit und das Wohlbefinden unserer Kolleg:innen oberste Priorität“, heißt es von Amazon zudem.

Privatsphäre nicht betroffen

Das Verwaltungsgericht Hannover hatte die Praxis im Anschluss an die Verhandlung als erforderlich und angemessen bewertet. Die erfolgreiche Argumentation der Amazon Logistik Winsen GmbH: Das Unternehmen benötige die ununterbrochene und personenbezogene Erfassung aller Arbeitsschritte zwingend für den Betrieb. Nur so seien die Steuerung der Logistikprozesse, die notwendige Qualifizierung von Beschäftigten, die Erteilung objektiven Feedbacks und Personalentscheidungen möglich. Das Gericht führte zudem an, dass die Privatsphäre der Mitarbeiter nicht von der Überwachung betroffen sei. Richterin Andrea Reccius sagte aber auch: „Wir haben keinen Zweifel, das hier ein gewisser Anpassungs- und Leistungsdruck entsteht.“ Die Abwägung sei eine „schwierige Aufgabe“, der Gesetzgeber müsse bessere Entscheidungsgrundlagen schaffen. In Deutschland gibt es kein Gesetz für den Datenschutz von Beschäftigten, dass Verwaltungsgericht Hannover entschied auf Basis des des allgemeinen Bundesdatenschutzgesetzes.

Kommt bald das erste Datenschutzgesetz für Beschäftigte?

Das Urteil zeige, dass ein eigenständiges Beschäftigtendatenschutzgesetz überfällig sei, sagte Anja Piel, Mitglied des -Bundesvorstandes des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Wie die Deutsche Presseagentur kürzlich berichtete, soll die Überwachung von Beschäftigten und die Verarbeitung ihrer persönlichen Daten in Zukunft stärker gesetzlich reglementiert werden. Der Gesetzentwurf von Bundesinnenministerium und Bundesarbeitsministerium sei für Herbst angekündigt.

Unterbrechen musste Amazon seine digitale Datenerhebung im sogenannten Fullfillment Center mit rund 1950 Angestellten in Winsen zu keinem Zeitpunkt. Nach einem Kontrollverfahren hatte die Landesbeauftragte für Datenschutz im Jahr 2020 die Praxis zwar als unzulässige Überwachung per Bescheid untersagt. Doch Amazon legte umgehend Klage ein und durfte das Warenwirtschaftssystem aufgrund einer aufschiebenden Wirkung der Klage in vollem Umfang weiterlaufen lassen, bis das Verwaltungsgericht Hannover das Vorgehen im Februar 2023 für zulässig erklärte.

Auch Amazons Umgang mit Betriebsräten beschäftigt die deutsche Justiz

Wann das Lüneburger Oberverwaltungsgericht nun über diesen Fall entscheidet, ist noch unklar. Sobald die Begründung der Berufung eingeht, erhält Amazon das Schreiben zunächst für eine Stellungnahme.

Neben der Erhebung von Mitarbeiter-Daten beschäftigt auch Amazons Umgang mit Betriebsräten die deutsche Justiz. Kürzlich urteilte das Lüneburger Arbeitsgericht, dass die Amazon Winsen GmbH den Betriebsratsvorsitzenden Detlev Börs fristlos entlassen darf, weil dieser eine Fortbildung schwänzte. Börs und seine Anwältin kündigten nach der Urteilsverkündung Anfang April an, Beschwerde gegen die Entscheidung einzulegen. Ähnliche Konflikte gibt es in Niedersachsen an zwei weiteren Standorten mit Betriebsräten, die von der Gewerkschaft Verdi organisiert werden.